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IM FOKUS: Karlheinz Essl

Karlheinz Essl im Gespräch mit Christian Baier

Anlässlich eines Gesprächskonzert im Wiener Jazzclub Porgy & Bess
am Montag, 4. April 2005




CB: In früheren Zeiten, als Kunst und Kultur gesellschaftspolitisch noch eine Selbstverständlichkeit waren, hätten wir uns eigentlich die folgende Frage ersparen können: Warum sind Sie Komponist geworden?

KHE: Ich habe mich schon als Jugendlicher für Musik interessiert in einer Weise, dass ich sie erstens selber spielen wollte, aber mich hat auch vor allem interessiert, was dahinter steckt - wie Musik eigentlich funktioniert, wie sie entsteht. Mich haben immer die Hintergrundstrukturen von Musik interessiert - schon in einer Zeit, als ich mit vierzehn / fünfzehn das Klavier, an das ich mit sieben Jahren gezwungen wurde, verlassen habe, eine E-Gitarre gekauft habe und mit Freunden Rockmusik gespielt habe. Da wollte ich nicht bloß laute Musik spielen. sondern wollte bereits da schon wissen, was dahinter steckt. Das war ausserdem auch ein gutes Training für die Ohren, wenn man sich die Platten von den Doors oder Frank Zappa abgehört hat, die Sachen aufgeschrieben und dann einstudiert hat. Später habe ich eine Ausbildung zum Chemie-Ingenieur gemacht - da bin ich dann mit der Chemie in Kontakt gekommen. Da geht's ja auch um alchemistische Prinzipien der Verbindung von Elementen, der Transformation, der Reinigung - das konnte ich später in mein Musikdenken integrieren. - Warum ich Musik mache? Ich möchte ästhetische Erlebnisse schaffen und dabei etwas gestalten, das sich in Klang ausdrückt.


Einflüsse

CB: Welche Einflüsse bestimmen eigentlich Ihr künstlerisches Denken? Sie sprechen von Chemie, von alchemistischem Denken. Sie selber haben ja an der - damals noch - Hochschule für Musik und bildende Kunst studiert bei Schneikart, Friedrich Cerha und Dieter Kaufmann. Wir beide sind ja Kollegen vom musikwissenschaftlichen Institut der Uni Wien. Da stellt sich für mich überhaupt einmal die Frage: auf der einen Seite die praktische Ausbildung als Komponist und Instrumentalist, auf der anderen Seite die Theorie der Musikwissenschaft - wie lässt sich denn das verbinden im künstlerischen Werdegang, in der künstlerischen Intention?

KHE: Für mich war die Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte eigentlich eine Schule des Hörens und des Musikdenkens. Mit Anfang zwanzig bin ich voll ins Mittelalter gekippt. Zu der Zeit ist gerade "Der Name der Rose" von Umberto Eco herausgekommen. Das war für mich, als ich mich mit dem Mittelalter beschäftigt habe, eine Kultlektüre. Durch die Beschäftigung mit der ganz alten Musik, die ja damals kaum im Konzertsaal gespielt wurde und vor allem Papiermusik war, bin ich in Kontakt gekommen mit Musikkonzepten, die mir völlig fremd waren. Als ich 1979 begonnen hatte, Musikwissenschaft zu studieren, besuchte ich in eine Vorlesung über Gregorianischen Choral - und ich hatte überhaupt nichts verstanden. Das war für mich ein völliges Rätsel, total enigmatisch, aber es hat mich gleichzeitig unglaublich fasziniert. Das hat einen - fast möcht' ich sagen - sportlichen Ehrgeiz entfacht, herauszufinden, was hinter dieser fremden und dabei auch so faszinierenden, berührenden Musik steht.

CB: Ich habe bei Ihren Kompositionen und theoretischen Arbeiten immer wieder das Gefühl der Neugier. Neugier bestimmt ja unser Leben - ohne sie gäbe es keine Entwicklung in unserer Menschheit. Wie schlägt sich diese Neugier in Ihren Kompositionen nieder? Sie haben sehr, sehr radikal angefangen als Komponist - ich denke da an ihr Streichquartett Helix 1.0 (1986), das ja auch mit dem Adolf Schärf Preis ausgezeichnet wurde: ein neugieriges Werk. Was ist Neugierde für Sie, was wollen Sie erforschen, was wollen Sie ganz persönlich wissen?

KHE: Hm, das weiß ich eigentlich gar nicht so genau. Ich bin fasziniert von der Erfindung des Unbekannten. Deswegen verwende ich gerne Konzeptionen, die ausserhalb des Üblichen sind, wie Musiker normalerweise funktioniert oder wie sie uns überliefert worden ist. Zur Zeit interessieren mich Musikkonzepte, die nicht aus unserer Kultur kommen. Ich bin derzeit fasziniert vom orientalischen Musikdenken - ich war gerade in Istanbul und habe dort mit jungen Musikern einen Improvisationsabend gemacht. Das Prinzip des maqam - des arabischen Tonsystems - ist mit unserem sehr beschränkten Dur-Moll-System in keinster Weise vergleichbar.

CB: Sie kommen als ausübender Musiker von der improvisierten Musik und als Musikwissenschaftler haben Sie sich intensiv mit dem Synthese-Denken bei Anton Webern beschäftigt. Sie sind als Komponist unterschiedlichste stilistische Wege gegangen, Sie haben ästhetische Nischen gesucht und gefunden, ästhetische Höhlensysteme erforscht. Wie hängen alle diese Betätigungsfelder und Interessenslagen miteinander zusammen? Auf gut Deutsch: Was spielt sich in Ihrem Kopf ab?

KHE: [lacht] Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich kann mir ja nicht beim Denken zusehen. - Was Elektronische Musik und Improvisation miteinander verbindet ist das Bedürfnis, Musik nicht von außen her zu komponieren, indem man eine Klangvorstellung einfach zu Papier bringt. Ich versuche hingegen, Systeme zu entwickeln, die quasi aus sich selbst heraus Musik bzw. Klänge erzeugen können, die ungewöhnlich sind und mir so nicht in den Sinn gekommen wären. Ich habe das einmal so verglichen: Ich versuche, meinen beschränkten Vorstellungshorizont zu erweitern, indem ich mich mit ausser meiner selbst gelegenen Instanzen beschäftige. Das waren lange Zeit Computerprogramme, was letztlich dazu geführt hat, dass ich mir mein eigenes Instrument entwickelt habe. Ich bin an sich Kontrabassist, habe das Studium aber abgebrochen, um mich mehr der Komposition zu widmen und habe 15 Jahre als "Schreibtischtäter" gearbeitet. 1997 bei den Salzburger Festspielen hatte ich eine große Präsentation in der Serie "next generation" mit Portraitkonzerten und Klanginstallationen. Da ist mir dann bewusst geworden, in welcher einsamen Situation ich mich befinde. Ich habe versucht, für mich selbst als Komponist einen Ausweg zu finden - quasi wieder Instrumentalist zu werden. Nur ist mir das Instrument inzwischen abhanden gekommen. Meinen Kontrabass habe ich 1983 in die Ecke gestellt und seitdem nicht mehr angerührt. Auch ein anderes akustisches Instrument kam für mich nicht in Frage. Ich wollte ein Instrument, das es mir erlaubt, auch damit zu komponieren. Seit 1996 ist dann das Software-Instrument m@ze°2 entstanden, mit dem ich heute meine elektronischen Musikperformances bestreite.


Synthese

CB: Sie haben über das Synthese-Denken bei Anton Webern dissertiert. Synthese ist eine ganz wichtige Verständniskomponente in Ihrem Werk. Ich habe mir selber sehr lange mit Ihren Kompositionen sehr schwer getan, wenig Zugänge dazu gefunden, bis eben der Groschen des Synthese gefallen ist. Unter Synthese versteht jeder etwas anderes - es gibt die Synthese in der Chemie und auch in der Philosophie. Was verstehen Sie unter Synthese und vor allem: Wie schlägt sie sich in Ihrem Schaffen nieder? Können Sie uns dafür vielleicht auch einige Bespiele nennen?

KHE: Die Synthese ist natürlich ein Grundprinzip in der Chemie: Alles, was produziert und hergestellt wird, verdankt sich letztlich einem synthetischen Prozess. Synthese im Sinne von Zusammenführen ist aber auch ein philosophischer Begriff, und ich beziehe mich eher darauf. In meiner Arbeit über Anton Webern ging's mir darum, dass, was Webern von sich selbst behauptet hat - in seiner Musik die Synthese von Beethoven und Bach zu schaffen - ernst zu nehmen. In den 80er Jahren, als meine Dissertation entstanden ist, wurde dieses Bekenntnis von Webern belächelt und zurückgewiesen. Webern musste aber einen Grund gehabt haben, warum im dies so wichtig war. Aufgrund seiner Schriften aus dem Nachlass in detektivische Kleinarbeit letztlich dahinter gekommen, was er eigentlich damit sagen wollte. - In Bezug auf meine eigene Arbeit gibt es noch einen anderen Aspekt, der mir wichtig ist: Das gleichzeitige Ablaufen mehrerer Musik- bzw. Klang-Sprachen, die zunächst einmal noch wenig Beziehungspunkte untereinander haben. Spannend finde ich's dann, wenn sich diese verschiedenen Sprachen - oder nennen wir es ruhig Sprecher - sich gegenseitig annähern und eine Konsens finden. Das Stück, das Sie gerade gehört haben, arbeitet mit diesen Mitteln. Es nennt sich Déviation, was soviel wie Umleitung oder Abweichung bedeutet. Es gibt immer wieder Momente in diesem Stück, wo ein sehr heterogenes Ensemble (bestehend aus Streichern, Bläsern und Schlaginstrumenten) sehr stark miteinander verschmilzt, sodass man die klanglichen Unterschiede nicht mehr wahrnimmt, und sich dann wieder total auseinander differenziert. Aus diesem ständigem Zusammenkommen und Auseinanderlaufen entstehen immer wieder Synthesen und auch Antithesen zu verschiedenen Arten von Sprachen.



Kommunikation

CB: Ich habe bei Ihren Stücken oft den Eindruck, es geht subkutan um Kommunikation - um Kommunikation der Instrumentengruppen, der einzelnen Musiker, der Musiker mit der Live-Elektronik, der Komposition mit dem Publikum. Kommunikation, gerade in der heutigen Zeit in den virtuellen Raum gedrängt, auf Informationsweitergabe, - Beschaffung gedrängt, aber nicht mehr auf die Kommunikation, die eigentlich ein Austausch von Befindlichkeiten, von Gedankenströmungen ist, fehlt heute in unserer Zeit. Was bedeutet für Sie Kommunikation, wie kommunizieren Sie mit Ihrem Publikum, mit dem Material, mit dem Sie arbeiten - es ist ein weites Feld.

KHE: Ein sehr weites Feld! Die Kommunikation mit dem Publikum ist mir ein sehr großes Anliegen, darum bin ich froh, dass wir heute hier zusammen sind - und ich kenne hier auch einige Gesichter aus anderen Kontexten, die vielleicht weniger mit Instrumentalmusik auf einer Bühne zu tun haben, sondern eher mit fluiden Musikkonzepten der Performance. Ich sehe das schon so, dass die klassische Form der Neue-Musik-Konzert-Darbietung für mich irgendwie auch problematisch geworden ist, weil es heutzutage kaum ein gesellschaftliche Verankerung dafür mehr gibt. Vor hundert Jahren gab es noch die Salons, da gehörte es zum guten Ton sich dort zu treffen, sich auszutauschen und anregen zu lassen. Heute findet dies eigentlich kaum mehr statt, sondern nur mehr in gleichsam geschützten Bereichen. Mich hat es interessiert, diese Bereiche auch zu verlassen und neue Räume, neue Gelegenheiten, zu suchen. Deswegen ist das Porgy auch ein wunderbarer Rahmen ausserhalb des Konzertsaal-Ambientes. Um noch diesen kommunikativen Aspekt abzuschließen: Ich arbeite sehr gerne mit MusikerInnen zusammen und schätze ihre Persönlichkeit und instrumentalen Fähigkeiten. Ich lerne auch viel von den Musikern, wenn ich mit ihnen über das Instrument rede oder verschiedene Arten von Spielweisen. Ich versuche dann, diese Erfahrungen auch in Stücke einfließen zu lassen. Letztlich gehe ich in kammermusikalischen Besetzungen (so wie heute Abend) immer von Menschen aus, die hinter diesen Instrumenten stehen und etwas verkörpern. Die aber nicht nur auf ihrer eigenen Meinung beharren, sondern die Argumentation der Gegenseite zu verstehen versuchen und in ihr Spiel aufzunehmen. Vielleicht haben sie dies ja bei dem vorhin gespielten Stück gehört, da gab es bestimmte Arten von Elementen: wiederholte Töne, virtuose Phrasen, Quasi-Melodien, Triller-Figuren, die von jedem Instrument auf eigene Weise gespielt werden. Und immer wieder der Versuch der Annäherung, dem Finden einer gemeinsamen Mitte, um daraus wiederum auszubrechen. Das hat für mich viel mit Kommunikation zu tun, wie wir miteinander umgehen, voneinander lernen und miteinander reden.


Wie entsteht eine Komposition?

CB: Man traut es sich einen Komponisten fast nicht zu fragen - es ist ja auch so etwas wie ein Betriebsgeheimnis - aber: Wie gehen Sie bei einem kompositorischen Prozess vor? Wie lange dauert es von der ersten Idee bis zur Ausformulierung dieser Idee, bis zur Ausformulierung des Stückes. Mich würde es ganz persönlich interessieren, wie das Stück, das wir vorhin gehört haben, entstanden ist - von der ersten Idee bis zu dem, was wir dann hören durften.

KHE: Ich kann schon darüber reden, das ist auch nicht so geheimnisvoll. Das ist ganz einfach: die Stücke entstehen immer in der Badewanne. Weil da kommen die besten Ideen und man kann sich sehr gut entspannen und konzentrieren. Aber sich brauchen lange, um zu werden. Bis ich mich einmal hinsetze um in Worten zu beschreiben, was ich mit diesem Stück möchte, vergehen Wochen, wenn nicht Monate. Wenn's dann soweit ist, existiert das Stück bereits als klangliche Vorstellung im Kopf. Nicht jedoch aber so, dass ich es transkribieren könnte, sondern dass ich mir eine Art Klangenvironment im Kopf zusammengezimmert habe, mit dem ich jetzt improvisiere. Und da versuche ich, verschiedene Zugänge zu finden. Und jetzt kommt dieser strukturelle Aspekt, der eigentlich aus dem philosophischen Strukturalismus stammt: hinter der Sprache ein Grammatik zu entwickeln - das ist immer das Wichtigste für mich. Eine Art Grammatik, eine Hintergrundstruktur, aus der dann - wenn so will - Sprache generiert wird. Was dabei entsteht ist eine Art Skelett-Struktur, die notwendigerweise nicht des Computers bedarf (wenn ich Instrumentalmusik schreibe, arbeite ich momentan nicht mit Rechnern). Es entsteht also eine strukturelle Hintergrundfolie, auf der ich dann - ich trau' mich's fast nicht zu sagen - improvisiere. Das ist ganz wichtig, dass ich mich fast meditativ in diese Vorgabe hineinfallen lasse und diese dann improvisatorisch zum Leben erwecke. - Und noch zur Frage nach dem eben gehörten Stück: dieses Werk ist einem jungen Mann gewidmet, der hier im Publikum sitzt: Mein Sohn Marian. Er ist 1993 geboren, ihm ist dieses Stück Déviation gewidmet, weil ich ihm mitgeben wollte, dass er sich nicht so geradlinig entwickeln soll, wo wie wir das gerne hätten, sondern dass diese Abweichungen ganz wichtig sind für die Entwicklung einer Persönlichkeit. Und um jetzt meinem älteren Sohn Simon, der auch hier sitzt, gerecht zu werden: als er zwei Jahr davor geboren wurde, habe ich ihm auch ein Stück gewidmet mit dem Titel In's Offene!. Da geht's eigentlich ums Gleiche, aber von einer anderen Seite betrachtet: Die Öffnung vom Geschlossenen hinaus ins Freie.



Prozesse und Spiele

CB: Sie haben ein ganz wichtiges Stichwort geliefert, nämlich "Entwicklung". Gibt es eine musikalische Entwicklung in ihren Werken? Manche Ihrer Stücke muten oft sehr, sehr statisch, sehr, sehr kreisend um sich selbst an. Und doch ist da eine innere Auratik, die sich auf einmal freisetzt. Ein chymischer Prozess (um jetzt einmal diese alchemistischen Begriffe zu verwenden), ein feines Ausästeln wie bei einer Zelle, die nach außen oft noch ihre Eiweißhülle beibehält, aber in sich bereits eine ganz andere eigendynamisch he, sehr faszinierende und mit unserer progressiven Logik nicht erfassbare Prozessualität entwickelt. Im Klartext: Was ist für Sie Entwicklung in einem Stück, wie kann man sich ihren Stücken von einem prozessualen Denken her nähern?

KHE: Um gleich die letzte Frage zu beantworten: Ich möchte nicht, dass man sich meinen Stücken in einer bestimmten Weise nähert. Das soll jedem selbst überlassen bleiben. Ich versuche zumindest, viele Zugänge zu schaffen und ich freue mich immer, wenn Leute kreativ werden und alle möglichen Geschichten erfinden, die sie beim Hören entdecken. - Das Entwicklungsprinzip hat für mich damit zu tun, dass ich persönlich großes Interesse an Veränderungen habe - nicht zuletzt durch meine Auseinandersetzung mit Schönberg und Webern: Das Prinzip der entwickelnden Variation. Man sagt etwas und wiederholt es ständig, aber es wird immer neu eingekleidet, es transformiert sich ständig. Diese Prinzip hat mich immer fasziniert. Am Anfang meiner Komponistenkarriere habe ich Stücke entwickelt, die sehr stark prozessual waren, wie zum Beispiel das Streichquartett Helix 1.0, das sich wie eine Spirale aufdröselt und wieder zusammenzieht. Das hat mich aber nach einer gewissen Zeit nicht mehr interessiert, sondern ich wollte eigentlich Klangenvironments schaffen, die quasi auratisch in sich selbst kreisen und immer wieder neue Façetten zeigen. Fast wie ein Organismus, den man durch ein Mikroskop betrachtet und beim Pulsieren zusieht, und vielleicht gar bei der Zellteilung.

CB: Man braucht also ein offenes Ohr, um die Feinheiten ihrer Kompositionen und auch das nicht dem Mainstream der Moderne verhaftete ihrer Kompositionen zu erkennen. In Teilbereichen Ihre Oeuvres operieren Sie mit auch mit Zufallsprinzipien - ich denke da an ihre letzte Komposition, die Sie mir im Sommer gezeigt haben. Ich bin stolzer Besitzer der Partitur eines Werkes, das auf Spielkarten gedruckt wurde - Faites vos jeux! - und nach einem Zufallsprinzip funktioniert. Meine Frage: Sind Sie ein spielerischer Mensch, ist das Spiel für Sie als kreativer Weg der Bewusstwerdung von Ideen und Gedanken wichtig?

KHE: Das kann ich nur bejahen! Ich spiele gerne. Mich interessieren eben auch Systeme, die einen überraschen und herausfordern und Unvorhersehbarkeiten erzeugen können. Aber mich interessiert auch die Kontrolle des Zufalls. Der reine Zufall des Würfelwurfs hat mich nie gefesselt, sondern immer nur der Zufall, der auch eine Gestaltung erfährt. Gerade bei dem Kartenspiel, das Sie vorhin angesprochen haben, gibt es eine sehr starke gestalterische Komponente, die dem Zufall eine ganz neue Rolle zuweist: er ist jetzt nicht mehr der Erzeuger, sondern nur mehr der Anreger der Form - wie ein Katalysator, der etwas in Gang setzt; etwas, das faszinierend ist, das pulsiert, das lebendig ist. Der Zufall wird hier nicht als Unordnungsstifter verwendet, sondern tritt fast schon als Ordnungsprinzip auf.



Zusammenarbeit mit anderen Künstlern

CB: Sie haben in Ihrem Schaffen sehr oft auch mit Künstlern, die nichts mit Musik zu tun haben, zusammengearbeitet. Ich denke hier an Harald Naegeli (den "Sprayer von Zürich"), an die Architektin Carmen Wiederin oder die Videokünstlerin Vibeke Sørensen. Welche Absicht steckt hinter diesen Kooperationen mit Leuten nicht-musikalischer Provenienz?

KHE: Zum einen die Faszination der Künste aus nicht-musikalischen Bereichen, und dann auch die unglaubliche Bereicherung die ich erfahren habe, wenn ich mit KünstlerInnen aus anderen Bereichen gearbeitet habe. Harald Naegeli verdanke ich beispielsweise die Zuwendung zur improvisierten und nicht fixierten Musik, da die Zusammenarbeit mit ihm sonst nicht funktioniert hätte. Was mich sehr interessiert sind Architekten - Leute, die mit Räumen arbeiten - und momentan auch Künstler aus dem visuellen Bereich, die mit Video arbeiten. So habe ich letzte Woche mit Studenten der Klasse Eva Schlegel die Video/Sound/Performance Nach viermal geht die Sonne auf in der Wiener DONAU-Versicherung gemacht, die von den StudentInnen gestaltet wurde. Dazu habe ich einen Live-Soundtrack gemacht und auch selbst aufgeführt. Das hat mich sehr stark inspiriert, weil die Musik unmittelbarer Ausdruck der projizierten Visuals war. Ein spannendes Gestaltungsprinzip: Im Moment in einem zuvor komponierten Klang-Environment etwas frei zu gestalten.

CB: Sie haben 1992 am IRCAM die Realtime Composition Library für algorithmische Komposition in Echtzeit entwickelt, seit 1996 das computer-basierte Software-Instrument m@ze°2, das Sie für Ihre Improvisationsprojekte und Musikperformances einsetzen. Für mich persönlich ein Werk, das mir das Verständnis für Ihr Denken geöffnet hat, ist die Lexikon-Sonate, die berühmt-berüchtigte Lexikon-Sonate. Sie haben in Ihrem Schaffen immer mehr den Komponisten als - wie ihn uns die Romantik präsentiert - als alleinigen geistigen Urheber eines Werkes - den großen Koordinator, der von Gedanken und Visionen heimgesucht wird - in Frage gestellt. Wie kam es zu der Komposition der Lexikon-Sonate? Was steckt hinter diesem Prinzip, dass es einen Komponisten im Sinne des großen, einsamen Genies à la Beethoven hier nicht mehr gibt?


Lexikon-Sonate

KHE: Wie der Titel schon sagt hat die Lexikon-Sonate den Anspruch, ein Lexikon der Klaviermusik zu sein. Sie geht auf den Lexikon-Roman von Andreas Okopenko zurück. Ein Buch, das 1970 erschienen ist und in den wilden 68ern geschrieben wurde von einem österreichischen Schriftsteller, der zum ersten Mal in der Literatur das Prinzip des "Hypertexts" - der ja heute im World-Wide Web gang und gäbe ist - literarisch umgesetzt hat. Der Begriff "Hypertext" wurde zur gleichen Zeit von Ted Nelson in Amerika formuliert - aber ich bin mir ganz sicher, dass Andreas Okopenko davon nichts gewusst hat. Jedenfalls hat er ein Buch geschrieben, das aus hunderten von Kapitelchen besteht, die wie in einem Lexikon alphabetische nach Stichworten geordnet sind. In diesem Text wird die Geschichte einer Donaufahrt auf einem Schiff beschrieben. Das Besondere dabei ist, dass dieses Buch nicht von vorne nach hinten zu lesen ist, sondern wie ein Lexikon kann man es in alle Richtungen durchblättern und den Verweispfeilen auf andere Kapitel nach Belieben folgen. Wie gesagt, das Buch ist bereits 1970 erschienen. 1991 hat eine Gruppe von Netztheoretikern, Philosophen, Photographen, bildenden Künstlern und Andreas Okopenko - die Libraries of the Mind - begonnen, dieses Buch als Computerprogramm umzusetzen. Zu dieser Zeit gab es noch kein World-Wide Web, aber es existierte bereits eine Programmiersprache namens HyperCard, die es ermöglicht hat, solche Hypertexte zu realisieren. Gemeinsam haben wir dann eine CD-ROM entwickelt, die das Buch sozusagen auf den Computer überträgt. Allerdings hat Okopenko darauf hingewiesen, dass es keinen Sinn macht, das Buch bloß in ein anderes Medium zu übertragen, sondern andere ästhetische Ebene - Bild und Ton - dazukommen. Die Ursprungsidee der Libraries bestand in der Vorstellung, dass ich zu jedem dieser Kapitelchen eine Art Jingle komponieren sollte, die beim Lesen der entsprechenden Stellen bloß abgespielt wird. Ich fand das aber ziemlich banal und langweilig. Ich war zu dieser Zeit in Paris am IRCAM und bin dort mit der Programmiersprache MAX in Kontakt gekommen, die es erlaubt, in Echtzeit Musikstrukturen zu generieren. Und damit war für mich schon ein Ansatzpunkt gegeben: Man liest Okopenko's Buch, und neben einem improvisiert ein Komponist am Klavier. In dem Moment, wo ich von einem Kapitel ins nächste springe, ändert sich das Spiel des Pianisten, und zwar so, dass eine musikalische Struktur des vorangegangenen Kapitels weitergeführt wird, und etwas Neues hinzukommt. Zunächst habe ich quasi kleine Etüden komponiert: Musikalgorithmen, die bestimmte - ich sag das einmal ganz hart - Klang-Clichées der Klaviermusik seit Johann Sebastian Bach abbilden. Jeder, der selbst Klavier spielt, kennt das natürlich: Läufe, Akkordstrukturen, die berühmt-berüchtigten Albertibässe, Trillerfiguren, Vorschläge und das ganze barocke Vokabular an Verzierungen. Für jeden dieser Klangtypen / Klang-Clichées habe ich einen eigenen Strukturgenerator entwickelt, der mit Hilfe von Zufallsoperationen innerhalb der Systemgrenzen daraus Musik generiert. - Das möchte ich jetzt gerne vorspielen. Damit es nicht zu langweilig wird, spiele ich einen Ausschnitte aus diesem unendlichen Klavierstück, das weder eine Partitur kennt noch eines Pianisten bedarf.


Performance der Lexikon-Sonate
Karlheinz Essl: computer-controlled piano
Portraitkonzert Karlheinz Essl: Porgy & Bess, 4.4.2005


...wird sichtbar am Horizont

CB: Ist es für Sie als Komponist ein Unterschied, ob Sie jetzt für einen Computer komponieren oder für ein Ensemble? Ist das ein anderes Denken, oder gibt es da gemeinsame Wurzeln?

KHE: Das Handwerk unterscheidet sich natürlich im jeweiligen Fall, aber die Ideenwelten sind natürlich die gleichen. Die formen sich halt anders aus: Einmal ist das eine Notation, die Musikern Spielanweisungen in die Hand gibt, auf Grund derer Klang entsteht; im anderen Fall ist das die Komposition des Klanges selbst, wo der Vorgang des Interpretierens und Umsetzens bereits in die Komposition einfließt.

CB: Das nächste Stück, das wir hören werden, zeigt eine ganz andere, aber immer gleiche Façette Ihres Schaffens. Faszinierend für mich - und das ist jetzt ein Bekenntnis: ich bin ein Esslianer - das sich Gedanken bei Ihnen wie Kristalle von ganz verschiedenen Seiten immer neu zeigen, Strukturen sich kontextgebunden definieren und im nächsten Stück schon wieder ganz anders definiert werden. Was können Sie uns über das nächste Stück, das wir im Anschluss vom Ensemble XX. Jahrhundert unter Peter Burwik hören werden, sagen?



KHE: In diesem Stück gibt es zehn Instrumente, die in Gruppen zusammengefasst sind: Da gibt es eine Gruppe, die besteht nur aus einem Klavier; eine Gruppe bestehend aus zwei Schlagzeugern; eine Ensemble von drei Bläsern; und eine aus vier Streichern. Das ist auch so eine Art Spielsystem, das einem auch gewisse Zwänge auferlegt, aber auch viele Möglichkeiten bietet. Bei diesem Stück sind die Gruppen nun nicht alle auf der Bühne zusammengepfercht, sondern im Raum verteilt: Das Klavier ganz hinten; hier die beiden Schlagzeuger, die sich quasi duellieren; im hinteren Teil der Galerie die Bläser, und vorne jeweils zwei Streichduos mit Cello und Geige. Das Stück trägt den Titel ...wird sichtbar am Horizont - das ist einem Gedicht von Ingeborg Bachmann entnommen, wo sie von den härteren Tagen spricht, die am Horizont sichtbar werden.

CB: Härtere Zeiten erleben wir in Wien auch. Ich hoffe aber, dass Ihnen das Gespräch mit Karlheinz Essl auch neue Zugänge zum Denken und der Musik eines - für mich sehr, sehr faszinierenden zeitgenössischen österreichischen Komponisten - bieten konnte.


Interview, geführt am 4. April 2005 im Wiener Jazzclub Porgy & Bess während des Gesprächskonzertes "IM FOKUS: Karlheinz Essl" mit dem Ensemble XX. Jahrhundert unter der Leitung von Peter Burwik.



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Updated: 9 Dec 2022

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