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Beethoven ist eine Titanenfigur

Interview mit dem österreichischen Komponisten Karlheinz Essl
von Elisabeth R. Hager

Geführt via Skype im August 2013 zwischen Neuseeland, Klosterneuburg und der Provence



Der Komponist Karlheinz Essl gehört zu den umtriebigsten Protagonisten der zeitgenössischen Neuen Musik. Neben seiner vielseitigen Tätigkeit als Komponist, Musiker, Musik-Kurator und Improvisateur bekleidet er seit 2007 eine Professur für elektro-akustische und experimentelle Musik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien. Essl, der seine Dissertation über das „Synthese-Denken bei Anton von Webern“ verfasste, interessiert sich in seiner künstlerischen Arbeit besonders für den Zufall, das Improvisieren und das Aleatorische. Unsere Autorin Elisabeth R. Hager ist Karlheinz Essl seit einer Lesung im „Essl Museum“, der privaten Kunstsammlung seines gleichnamigen Vaters, freundschaftlich verbunden. Sie sprach mit ihm über Ludwig van Beethoven, den Namenspatron des Musikmagazins VAN.


Karlheinz Essl in seinem Studio kHz © Markus Rössle 2011

Der Komponist Karlheinz Essl in seinem Studio kHz
© 2011 by Markus Rössle



VAN: Beethovens Musik läuft auch fast 200 Jahre nach seinem Tod auf allen Kanälen und begeistert ein Publikum weltweit. Welche Rolle spielt sie für Dich als zeitgenössischer Komponist heute?

Karlheinz Essl: Beethoven ist eine Titanenfigur, der man nicht entkommt. Mich inspiriert er weniger wegen seiner bombastischen Symphonien, die sich ausdrücklich an das Publikum wenden, an die Menschheit – à la „Freude schöner Götterfunken“. Was mich aber seit Beginn meiner Auseinandersetzung mit klassischer Musik an Beethoven fasziniert hat, ist sein ganz spezieller Zugang zur Musik. Beethoven war ein Komponist, dem – im Unterschied zu Mozart – die Musik nicht zugeflogen ist. Er hat sie sich abgerungen, indem er tagelang über seinen Skizzen gesessen hat und aus einfachen, teilweise banalen Grundeinfällen Themen in mühevoller Kleinarbeit herausdestilliert hat, fast wie ein Alchimist.


Con una certa espressione parlante performed by Kaori Nishii and Karlheinz Essl
University of Music and Performing Arts Vienna, 6 Apr 2016


Wie hat Beethoven die Musikgeschichte insgesamt beeinflusst?

Es gibt von Beethoven ausgehend eine musikgeschichtliche Entwicklung, einen stream of consciousness, der direkt zur so genannten „Zweiten Wiener Schule“ führt. Die „Erste Wiener Schule“ war ja die Wiener Klassik mit Mozart, Beethoven, Haydn. Von dort führt ein radikalerer Ast zur „Zweiten Wiener Schule“ und dabei vor allem zu Anton Webern. Webern war sehr interessant, weil er eine äußerst visionäre Musik geschrieben hat zu seiner Zeit, völlig jenseits dessen, was damals common sense war. Erstaunlicher Weise bezieht sich Webern in seinen extremen Experimenten immer wieder auf Beethoven. Und darin liegt das Besondere für die heutige Zeit: dass Beethoven einerseits Kitsch-Stücke wie „Für Elise“ schreibt, und dann aber auch Sachen wie die 9. Sinfonie oder die Eroica, die zu einer Initialzündung geworden sind für ein ganz anderes, radikal neues Musikdenken, das die Oberflächenphänomene, die wir von Beethoven kennen, gar nicht mehr aufnimmt, sondern nur noch die Tiefenstrukturen erkennt und aus diesen neue Dinge herausdestilliert.


Karlheinz Essl in seinem Studio kHz © Markus Rössle 2011 Karlheinz Essl in seinem Studio kHz © Markus Rössle 2011

Karheinz Essl am Toy Piano
© 2001 by Markus Roessle


Auch Du hast Dich in Deiner kompositorischen Arbeit auf die Suche gemacht nach kompositorischen Tiefenstrukturen. Für Deine „Lexikon-Sonate“ hast Du seit 1992 musikalische Gesten berühmter Komponisten algorithmisch formalisiert und diese Parameter mit Hilfe von Zufalls- und Strukturgeneratoren derart bearbeitet, dass daraus bei jeder Aufführung neue Stücke entstehen. Welche Rolle hat Beethoven dabei gespielt?

Ich habe mir die Klavierliteratur aus der Geschichte vorgenommen von Bach bis Brahms, Beethoven, Schönberg, Boulez und versucht, unter diese typischen Klaviergesten zu schauen: Gibt es da strukturelle Keime, die man herausarbeiten kann und wie lassen sich diese Strukturkeime variieren? Dieses Varianten-Erzeugen ist auch ein typisches Merkmal bei Beethoven. Der Zufall wird dabei zu einer Art Ferment, das Dinge in Gärung bringt, und aus der Gärung entstehen immer wieder neue Substanzen. Etwas ganz Ähnliches hat Beethoven auch gemacht, natürlich ohne Computer, sondern einfach durch die Art des Schreibens, aber es ist irgendwie angelegt im Keim.


Lexikon-Sonate (1992 ff.) performed by the composer on a Yamaha Disklavier
12 Jul 2016, NIME Conference 2016 (Brisbane, Australia)


Du bist ja nicht nur Komponist, sondern auch Professor für elektro-akustische und experimentelle Musik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Ist Beethoven eine erkennbare Bezugsquelle für Deine Studierenden?

Eher nicht. Meine Studierenden haben den ganzen historischen Kontext und was man bei uns Musiktheorie nennt, bereits im Grundstudium absolviert und kommen erst danach zu mir. Ganz sicher haben sie sich in ihrer Frühzeit mit Beethoven beschäftigt. Möglicherweise kann das im Einzelunterricht ein Thema werden, wenn ich als Beispiel für „entwickelnde Variation“ ein Stück von Beethoven nehme, aber generell geht es in meinem Unterricht vornehmlich um Zeitgenössisches und elektronische Musik. Für mich persönlich aber ist Beethoven ein Movens, das immer da ist. Er ist Teil meines musikalischen Backgrounds. Als Student habe ich unglaublich viel Beethoven analysiert und dabei viel gelernt. Vor allem die strukturellen Dinge, die für mich später auch wichtig geworden sind auf einer anderen Ebene.


Karlheinz Essl in seinem Studio kHz © Stefan Csáky 2009

Der Komponist Karlheinz Essl in seinem Studio kHz
© 2009 by Stefan Csáky


Mit Beethoven betritt auch die Idee des genialen Künstler-Ichs mit dem tragischen Leben die Bühnen der Welt. In Deiner Arbeit, in der Du dem Zufall und der Improvisation eine bedeutende Rolle einräumst, scheint mir der Fokus eher wegzugehen von Geniegedanken und Schöpferkult. Stimmt das?

Wir leben heute in einer völlig anderen Zeit. Ich glaube das Genie ist ein Modell, das ausgedient hat. Im Bereich der Bildenden Kunst und der Musik gibt es zwar immer noch Figuren, die diesen alten Geniekult aufrechterhalten und auch inszenieren. Für mich spielt das aber keine Rolle. Dieser ganze Bombast und dieses Selbstverständnis des Komponisten als Erretter der Menschheit, als Religionsersatz, das finde ich wirklich widerlich, wenn ich das so sagen darf.


Glaubst Du, dass es in Zukunft noch Komponisten wie Beethoven geben kann?

Na ja, es gab ja einen, der sich im letzten Jahrhundert wie Beethoven und Wagner inszeniert hat, Karlheinz Stockhausen. Stockhausen... Auch so ein Thema, an dem ich mich dauernd reibe... Ich verehre ihn, aber ich lehne viele seiner Ideen, die mit der Musik nichts mehr zu tun haben, ab. Er war jedenfalls noch ein letztes Überbleibsel eines hypertrophen Geniekults. Da ging Stockhausen noch über Wagner hinaus mit der Inszenierung eines lebensumspannenden Gesamtkunstwerks, der Einbettung des gesamten Kosmos in die eigene künstlerische Arbeit und seiner Stilisierung als Erlöser, als der er sich gefeiert hat. Sonst gibt es – Gott sei Dank – nicht mehr so viele von dieser Sorte. Die sterben jetzt irgendwie aus! (lacht)


Das Interview wurde am 30.8.2013 über Skype zwischen Neuseeland und Österreich geführt
Veröffentlicht in VAN #02 - Magazin für klassische Musikkultur (Berlin: September 2014)

© 2014 by Karlheinz Essl, Elisabeth R. Hager und VAN Verlag



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Updated: 17 Dec 2020

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