Im Wagner-Jahr 2013 schuf Karlheinz essl drei elektroakustische Stücke, die er als Wagneriana zusammenfasste. Durch das etwas pathetisch wirkende Wort ›schuf‹ soll vermieden werden, Essls komplexe kreative Praktiken auf ein Komponieren im Sinne eines ›zusammensetzens‹ zu reduzieren, ebenso wie die Bezeichnung ›elektroakustische Stücke‹ Raum für eine Erläuterung lassen soll, die den Ergebnissen dieses Schaffensprozesses nicht unausweichlich eine bestimmte ontologische Qualität zuschreibt, wie dies ein Begriff wie Komposition tun würde. Essls Umgang mit Fragmenten aus Werken Richard Wagners lässt sich nämlich recht anschaulich differenzieren, wenn er als Praxis der Translation gedacht wird: Wagners ›Ausgangstext‹ und Essls ›Zieltext‹ sind dabei zunächst lediglich Markierungen, zwischen denen sich Essls Praktiken – nicht nur als Komponist, sondern auch als Performer – entfalten. Aus ihrem Verhältnis zueinander lassen sich Rückschlüsse auf Essls Behandlung von Wagners ›Original‹ ziehen; noch interessanter ist jedoch zu durchdenken, mit welchen Strategien Essl in seiner Funktion als ›Übersetzender‹ agiert. Oder wie Ron Schepperd beobachtet:
The Essl work can be viewed as an examination of notions of authorship and the ways by which wagner’s music can be wrested from its creator’s grasp, and of how the meanings he imputed to the material are supplemented by a proliferation of additional meanings that others, such as Essl, bring to it.(CD-Rezension in textura.org, Januar 2014)
Mit dem Interview soll also keine ›Diagnose‹ gelingen, was denn eine Translation in Essls Wagneriana ist; es soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen und neue Einblicke sich ergeben, wenn Essls kompositorische Vorgehensweise als eine von einem Referenzpunkt ausgehende Vermittlungspraxis gedacht wird, die auf dem Gebrauch diverser Medien beruht. Im unmittelbar Folgenden sollen zunächst einige Besonderheiten von Essls Wagneriana skizziert werden, bevor der Künstler im anschließenden Interview selbst zu Wort kommt.
Allgebrah.
Alles was dem Menschlichen Auge sichtbar, oder unsichtbar ist: Kann mittels fein gebildetem Menschensinn, guhtem Willen, Fleiss und vorhandenem, geeigneten Matteriahl in Musik-Lieder-Text verwandelt werden und zwar vom kleinsten bis zum grössten Gegenstand oder, Nichtgegenstand.
Diese drei Stücke bilden einen gemeinsamen Kosmos und beleuchten Essls Verhältnis zu Wagner aus unterschiedlichen Perspektiven. Wagner ist als Fluchtpunkt ambivalent: Wie lässt sich das Faszinierende ebenso wie das Abstoßende an Wagners Ausdrucksformen mit den eigenen ästhetischen Idealen vereinbaren?
Der Parsifal-Kristall erhält seine zeitliche Gestalt durch einen sogenannten Mixer, der von Essl so programmiert wurde, dass er die der Musik Wagners entnommenen und modifizierten Klangsegmente automatisch, aber nicht ganz zufällig übereinander schichtet und stets aufs Neue miteinander kombiniert. Als eher statisch wirkende Klangumgebung eignete sich Parsifal-Kristall, um zu Hannes Mleneks malerischer Rauminstallation Parsifal zu erklingen, als diese von Juli bis September 2013 im ehemaligen k. & k. Post- und Telegraphenamt in Wien im Rahmen der Ausstellung Wagner Extase gezeigt wurde.
Im Gegensatz dazu ergibt sich der Verlauf der beiden Soundperformances WalkürenWalk und Tristan’s Lament bei jeder Aufführung neu aus den direkten Interventionen des Künstlers, der für jedes Stück eigens ein Computerprogramm kreierte, dessen kompositorische Parameter er während einer Performance mit Reglern steuert.
Auch wenn das klangliche Ergebnis solch einer Performance als »live in Echtzeit komponiert« (Susanne Vill: Wagner im Software-Gewand) beschrieben werden kann, ist dieses doch weniger vorhersehbar – also eher improvisiert. Dies lässt sich im Vergleich mit Essls jüngstem Werk Herbecks Versprechen erkennen: Für dieses erstellte er eine Art ›Spielpartitur‹mit präzisen Handlungsanweisungen zum Ablauf, an der er sich bei jeder Aufführung orientiert, während er im WalkürenWalk und bei Tristan’s Lament spontan seiner Intuition folgt. Die Möglichkeit zur Variantenbildung ist in beiden Stücken fast unendlich, während sich die Werk-Gestalt von Herbecks Versprechen schon allein in einer immer ähnlichen Verlaufsdauer niederschlägt. Es wird zu fragen sein, welchen Effekt die Speicherung von improvisierten oder einem (gesteuerten) Zufallsprinzip folgenden Performances auf einer CD hat, wie sie Essl jüngst von den drei Wagneriana-Stücken vorgelegt hat.
ESSL: Es war ja eigentlich eine Anregung von außen, denn Hans-Georg Nicklaus (ein Musikredakteur des Österreichischen Rundfunks, der auch Musikwissenschaftler ist) hatte anlässlich des 200. Geburtstages von Wagner dazu aufgerufen, den Walkürenritt von Wagner neu zu bearbeiten. Ich wollte das ursprünglich mit meinen Studentinnen machen, aber die haben sich dafür nicht interessiert. Da habe ich mir gedacht, ich müsste das eigentlich innerhalb eines Tages schaffen. Als ich mir überlegte, welche Position ich zu diesem Stück beziehen kann, die nicht bloß eine Verdoppelung von etwas Bestehendem darstellt, sondern eine Art von Zerstörung des Originals mit anschließendem Wiederaufbau, da bin ich draufgekommen, dass das viel mehr Arbeit ist, als ich ursprünglich angenommen hatte. Daraufhin habe ich mir mindestens eine Woche lang bestimmte Strategien überlegt, wie ich eine Distanz zum Original herstellen kann auf einer Skala zwischen der Rekonstruktion und der totalen Deformation der Vorlage. Das war die größte gedankliche Herausforderung, hier einen Prozess zu erfinden, der eine Vermittlung zwischen diesen beiden Antipoden ermöglicht.
HUBER: Als Ausgangpunkt [des WalkürenWalks] hast du 30 Sekunden aus einer Audioaufnahme des Walkürenritts herausgeschnitten. Wenn man sich diesen Ausschnitt so vorstellt, als ob es ein Text wäre – denn Text ist in der Regel ja auch ein Träger von Struktur – wie wäre denn dann dieser Ausgangspunkt für dich strukturiert gewesen?
ESSL: Ich habe mir den Teil herausgeschnitten, der eigentlich nur aus dem Kopfmotiv besteht (vgl. Notenbeispiel). Das ist in h-Moll und wendet sich dann ganz merkwürdig nach D-Dur.
Im Grunde ist das eigentlich nichts anderes als ein wunderbar ausinstrumentierter h-Moll Akkord mit seiner Dur-Parallele. Wenn man es reduziert auf das harmonische Material, ist das nichts anderes als vier Töne. Vergessen wir einstweilen, was da noch an Instrumentationskünsten dazukommt: diese unglaublichen Girlanden und Figuren, mit denen das Orchester dieses Hörnermotiv einspinnt. Ich wollte ganz bewusst ein sehr knappes Material verwenden, das auch leicht wiedererkennbar ist. Diese Fanfare ist ja im Grunde ein in uns eingebranntes Zeichen, dass wir als Bestandteil unserer Kultur erkennen, weil man es schon so oft gehört hat. Man denke nur an den Film Apocalypse Now. Es gibt bestimmte signalhafte Musiken, wie auch die Fünfte Beethovens; dieses Kopfmotiv, das kennt man einfach. Das heißt, das braucht man nur anspielen und jeder weiß sofort, was das ist.
HUBER: Also schon allein aufgrund der Klangassoziationen.
ESSL: Und das ist wichtig: Um eine Dekonstruktion zu bewerkstelligen, muss das Material einprägsam und bekannt sein.
HUBER: Das heißt also, dass so ein Spannungsfeld zwischen Wiedererkennbarkeit und Verfremdung entsteht, was dann im Grunde genommen auch bedeutet, dass den Zuhörern und Zuhörerinnen die Möglichkeit zum Wiedererkennen des Originals ebenso verweigert wie ermöglicht wird.
ESSL: Ich spiele mit beidem. Ich setze voraus, dass man den Walkürenritt kennt. Das macht das Ganze erst zum Erlebnis: Wenn sich etwa aus diesen anfänglichen Knacksern und Pulsen so nach und nach bestimmte Erinnerungsfragmente herausschälen. Damit spiele ich, und auch mit der Erwartung der Hörenden. Am Anfang weiß man noch gar nichts. Man vermutet vielleicht eine Glitch & Noise Music (eine eigene Richtung in der elektronischen Musik). Doch plötzlich merkt man: Da ist noch irgendwas anderes, was einem vertraut vorkommt. Mit dieser Ambivalenz spiele ich. Deswegen handelt es sich beim WalkürenWalk und bei Tristan’s Lament auch um eine Live-Performance, weil ich mich sozusagen auch beim Spielen selbst immer wieder überraschen lasse und dem Unerwarteten nachgebe, indem ich das Stück in immer andere Richtungen treibe.
HUBER: Du hast für jedes einzelne Stück der Wagneriana eine spezielle Software entwickelt. Landläufig denkt man ja beim Gebrauch von Software an elektronische Klangveränderungen.
ESSL: Ja, aber nicht nur Klangveränderung; es geht letztlich um eine Veränderung der kompositorischen Struktur. Bei mir ist Software nicht nur ein Effekt, den man anwendet, um den Klang besonders interessant zu machen oder dass er abgefahren klingt. Ich versuche, sozusagen in den Klang hinein zu mikroskopieren. Dann nehme ich mir einzelne Teilchen heraus (sogenannte grains) und ordne diese neu an. Damit kann ich aus jeder Art von Ausgangsmaterial – gewissermaßen aus dem Inneren heraus – neue Zusammenhänge formen, die, je nach ihrer Zusammensetzung, mehr oder weniger ans Original erinnern. Die dem Material immanente Aura dabei ist ebenso wichtig.
HUBER: Klangwahrnehmung ist ja auch mehr als die oberflächliche Perzeption, Struktur auch mehr als Tonsatz oder Spektren, die sich da dann irgendwie entfalten. Du gehst dem also auf den Grund.
ESSL: Ja, ich arbeite wirklich bewusst mit dem Klang. Es gibt zwar einen Text und eine Struktur dahinter, die den Klang letztlich erzeugt, aber mein Ausgangsmaterial ist nicht dieses h-Moll7, sondern der Klang, der Sound. Das ist ein merkwürdiges Wort, ein sehr umfassender Begriff. Er bedeutet viel mehr als nur Klangfarbe. Er hat eben auch mit der Aura zu tun.
HUBER: Software wird ja in einer Programmier-Sprache geschrieben: Wäre die für dich tatsächlich in einem wörtlichen Sinne Sprache, oder wie siehst du das?
ESSL: Diese Sprache, mit der ich arbeite – die am IRCAM entwickelte Echtzeitprogrammierumgebung MaxMSP – ist naturgemäß eher technisch orientiert. Vor über zwanzig Jahren habe ich begonnen, den Grundwortschatz dieser Sprache zu erweitern, mit eigenen Begriffen, die es zuvor nicht gab. Zum Beispiel bestimmte Operationen, wie man mit Zufall umgeht. Es gibt in Max zwar einen trivialen Zufallsgenerator wie in jeder Programmiersprache auch, aber dieser war mir einfach zu simpel. Zum Komponieren benötige ich einen Zufall mit Einschränkungen und einen anderen mit Erinnerungsvermögen. Der weiß, wenn ein Element schon einmal verwendet wurde und es dann sperrt: also ein Zufall mit Wiederholungsverbot. Oder ein anderer Zufall, der in eine bestimmte Richtung geht oder ein Zufall, der sich nur in kleineren Schritten bewegen kann wie eine Fliege, die eine Oberfläche abtastet ähnlich wie bei der Brownschen Molekularbewegung. Bereits Mitte der 1980er Jahre habe ich die Programmiersprache LOGO mit eigenen Spracherweiterungen zu einem »Computer Aided Composition«-Environment umgebaut und damit Instrumentalmusik komponiert.
HUBER: Das heißt dann also praktisch im Umkehrschluss, dass dieser Zufallsgenerator eben nicht dein Handeln, deine künstlerische Tätigkeit fremdbestimmt, denn du bestimmst den Zufall. Daraus ergibt sich auch gleich die wichtige Frage nach der Autorschaft.
ESSL: Genau. Ich habe mich sehr viel mit Zufall beschäftigt, weil der Zufall ja nicht einen Gegensatz zu Ordnung darstellt, sondern eigentlich nur einen anderen Aspekt von Ordnung. Es gibt ja diese Vorstellung, dass sich zwischen den Extremen Zufall und Ordnung eine Skala von Zwischenstufen konstruieren lässt, zwischen denen eine Vermittlung stattfindet. Das ist keine Erfindung von mir, sondern entspringt dem seriell geprägten kompositorischen Denken der 1950er und 60er Jahre. Anhand des Streichquartetts 1959 von Gottfried Michael Koenig habe ich das einmal ganz genau beschrieben. Diese Ideen habe ich in meinen eigenen Arbeiten weitergeführt.
HUBER: Wie ist das eigentlich mit Algorithmen ? Es gibt einen medienphilosophischen Aufsatz von Sybille Krämer mit dem Titel »Gedanken sichtbar machen« (2012). Da geht es eigentlich um visuell wahrnehmbare Dinge wie etwa Diagramme, die gedankliche Abstraktionen vermitteln. Wenn man diese Vorstellung des Wahrnehmbarmachenkönnens von Gedachtem auch auf Algorithmen übertragen wollte, könnte man einen Algorithmus ja als eine Art von Schrift sehen und sich fragen, ob damit kompositorisches Denken ausgedrückt werden kann. Wie siehst du das?
ESSL: Ja, sicher. Ein Algorithmus ist, wenn man es einmal ganz flapsig sagt, ein Kochrezept. Aber nicht im Sinne einer ganz präzisen Angabe, wie viel man einkauft und wie man diese Zutaten en détail zubereitet, sondern eher eine ungefähre Beschreibung, wie sie etwa ein Spitzenkoch macht. Dieser würde nie nach dem Kochbuch vorgehen und 153g Zwiebeln in 2mm große Stückchen hacken. Er weiß vielmehr, dass jetzt Zwiebeln zu rösten sind und weiß, welche Arbeitsschritte dafür nötig sind. Denn es gibt ein breites Feld von Möglichkeiten: Wie viel Zwiebel man nimmt, wie man sie schneidet, in welchem Fett man sie anbrät, ob das jetzt Speck oder Schmalz oder Olivenöl ist usw. So fasse ich Algorithmen auf. Es gibt hier eine gewisse Bandbreite. Die sind eben auch mit Hilfe des Zufalls so gebaut, dass sie jetzt nicht eindeutig wie ein Kochrezept im schlechten Sinn als vorgefertigte Würzmischungen funktionieren, sondern eher wie ein Rezept, das die Mutter ihrer Tochter mitgibt. Sie würde auch nicht sagen »Nimm 153g Zwiebeln !«, sondern einfach »Nimm Zwiebeln !«, und dann kann die Tochter entscheiden, ob sie Frühlingszwiebel oder rote oder weiße verwendet usw.
HUBER: Der Algorithmus wäre also die Schrift, mit der du dich dem Computer mitteilst?
ESSL: Der Computer weiß nichts, denn er ist dumm. Und ich baue ihm sozusagen ein Modell, und das Modell ist so gestaltet, dass es variabel ist. Innerhalb der Systemgrenzen gibt es also einen Bereich der Variation, der über Zufallsoperationen gesteuert wird. Mit welcher Zufallsfunktion bestimme aber ich, und dann kann das Modell etwas daraus generieren. Ob mir das auch gefällt, kann ich als Hörer bzw. Betrachter dann selbst entscheiden und das Modell gegebenenfalls verändern. Das ist im Grunde eine Art Interaktion, dass ich aufgrund der Analyse des Ergebnisses wiederum das zugrunde liegende Modell modifizieren kann. Und das passiert auch bei meinen elektronischen Live-Performances; das ist nichts anderes. Es entsteht dann eine Leibhaftigkeit. Alles passiert im Moment des Erklingens, und ich muss – wie jeder Instrumentalist – im Augenblick entscheiden, wie ich Fehler ausgleichen kann.
HUBER: Könnte deine Wagneriana jemand anders an deiner Stelle aufführen ?
ESSL: Ja, ich müsste die Person aber einschulen. Es sind bei dem einen Stück nur drei oder vier Regler zu bedienen; aber die sind so miteinander verknüpft, dass man schon viel üben und ausreichend Erfahrung haben muss, um damit zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Nur als Beispiel: Gestern wurde mein Sequitur XII für Cembalo und Elektronik gespielt. Zwei Elektroniker führten den Elektronikpart aus, obwohl ich diesen normalerweise ganz alleine spiele. Im Elektronikpart ist genau notiert, welcher Regler zu welcher Zeit wie bewegt werden muss. Es gibt zur Orientierung auch Diagramme. Das war den beiden aber zu schwierig, deshalb haben sie mich gebeten, ihn auf zwei Personen aufzuteilen: Einer kümmert sich um die Pegel des Mikrophons und des Ausgangs; der andere verändert die Klangeffekte. Dabei hat sich herausgestellt, dass die beiden die Partitur – obwohl alles genau aufgeschrieben war – nicht präzise spielen konnten.
HUBER: Hatte das vielleicht mit der Hörkompetenz zu tun ?
ESSL: Na ja, hören ... es waren schon gute Musiker, aber die haben das irgendwie nicht so richtig verstanden.
HUBER: Schon; aber man sollte ja auch wissen, worauf man hört.
ESSL: Genau, das war das Problem, obwohl ich mir gedacht hätte, es sei keines, weil die beiden Ausführenden auch Komponisten sind. Ich habe zwar alles genau aufgeschrieben und auch eingeräumt, dass nicht jedes Detail buchstabengetreu ausgeführt werden kann. Man muss aber genau mithören und überlegen, ob man einen Prozess etwas früher oder später beginnt – natürlich in Reaktion auf das Spiel der Cembalistin! Aber eigentlich wäre es mir lieber gewesen, wenn ich das Stück selbst gespielt hätte. Es wäre besser geworden. Obwohl die beiden Elektroniker es schon mehrfach ohne mich aufgeführt haben, war ich entsetzt, dass die das eigentlich überhaupt nicht richtig machen. Und ich dachte, ich hätte alles so eindeutig wie möglich notiert. Diese Erfahrung haben auch andere schon gemacht, wie auch Stockhausen; er wollte immer selber dabei sein bei seinen Aufführungen, weil er sagte, er könne seinen Part nicht delegieren. Das ganze Wissen und die Erfahrung, die ich habe, lassen sich mit Hilfe von Notation nur unvollständig kommunizieren.
HUBER: Das ist ein sehr interessanter Aspekt. Denn eigentlich verbindet sich mit dem Konzept der Performance die Vorstellung größter darstellerischer Freiheit. Also nicht, dass das Ergebnis einer Performance irgendwie als beliebig erachtet werden könnte; es gibt aber – wie du eben so eindrücklich geschildert hast – Kriterien, nach denen das Ergebnis einer künstlerischen Performance als gelungen oder gescheitert beurteilt werden kann – und zwar auch dann, wenn eine große Bandbreite möglicher Realisierungen vorgesehen ist. Vor diesem Hintergrund könnte die Tatsache, dass du Aufnahmen deiner drei Wagneriana-Stücke im November 2013 auf einer CD veröffentlicht hast als ein ganz drastischer Akt gesehen werden. Denn dadurch wird auf einmal eine einzige, text-ähnlich verfestigte Fassung als gültige festgeschrieben, obwohl eigentlich eine unendliche Anzahl von Realisierungen dieser Werke denkbar ist, die aber alle gleichermaßen richtig wären.
ESSL: Genau; aber ich finde das macht nichts. Das ist ein anderer Kontext. Der eine ist der des Konzertes: etwas Rituelles und etwas Feierliches in einem ganz speziellen Rahmen. Und der andere Kontext entsteht, wenn man eine Version des Stücks auf einem reproduzierbaren Medium wie einer CD veröffentlicht. Das ist für mich kein Problem. Es wird zwar nur eine Möglichkeit der Realisierung gespeichert; dafür habe ich aber die besten Versionen ausgesucht.
HUBER: Wenn wir nun davon ausgehen, dass Translation eine Praxis des Mediengebrauchs ist, was wären denn deine Medien im Moment der Performance – also alle Mittel, derer du dich bedienst, um der Vision deines Kunstwerks eine Gestalt zu verleihen?
ESSL: Es braucht einerseits einen Körper für die Software – das ist die Hardware des Computers: Der Computer ist der Körper, die Software der Geist. Dann brauche ich eine Verbindung meines Körpers mit dem Körper des Computers. Das funktioniert zum Beispiel über einen sogenannten Controller (Regler), den ich mit den Fingern bediene. Der liegt gut in der Hand, und ich kann mit ihm auch mehrere Regler gleichzeitig manipulieren – im Unterschied zu einer Computermaus, mit der ich nur einen oder maximal zwei Parameter gleichzeitig steuern kann. Das ist sozusagen die Verbindung zu meinem Körper, und dann geht es nach außen über einen Lautsprecher (der in einer möglichen Aufführungsversion15 über ein Klavier abgestrahlt wird, was besonders interessant ist), der wiederum das, was der Körper erzeugt, auch hörbar macht. Dieses klangliche Resultat brauche ich, damit ich performativ darauf reagieren kann.
HUBER: Das lässt sich an der Dokumentation deiner Performance in Taipeh nachvollziehen: Du sitzt ja nicht nur da, als ob du an einem Schreibtisch säßest. Du stehst, und – vor allem – du bewegst dich. Das heißt, du drückst auch durch deinen Körper etwas aus (Yehane/Klawitter/König 2012).
Karlheinz Essl spielt seinen Walküren-Walk beim Lacking Sound Festival
Digital Arts Center, Taipei (13 April 2013)
ESSL: Aber die Bewegung ist nicht vordergründig. Manche Leute meinten schon, ich tanzte zu meiner Musik, aber dem ist nicht so.
HUBER: Mich hat das auch eher an die Spielbewegungen von Pianisten und Pianistinnen erinnert. Denn nur, weil Klavierspielen mit mehr Kraftaufwand verbunden ist, heißt das ja nicht, dass diese Spielbewegungen allein aus der physikalischen Notwendigkeit des Tastendrückens entstehen.
ESSL: Es ist, glaube ich, auch so, dass die Bewegung, auch wenn sie ein bisschen ausladend ist oder gestisch, in mir eine andere Energie erzeugt und eine besondere Art der Aufmerksamkeit. Ich muss in Bewegung sein, um die Musik zu spüren und ausdrücken zu können. Es gibt ja Elektroniker, die sitzen da an ihrem Computer und man weiß nicht, ob sie E-Mails lesen oder irgendwas anderes machen. Die lassen oft einfach nur fertige Aufnahmen ablaufen und verändern vielleicht ein bisschen den Level oder fügen noch Klangeffekte hinzu. Dadurch wirken sie ein wenig unbeteiligt. Aber ich finde, wenn man Musik macht, dann darf man sich auch ruhig körperlich ausdrücken. ich habe immer das Gefühl, dass ich beim Performen viele Fäden in der Hand habe, wie ein Marionettenspieler. Dabei muss ich unglaublich aufpassen, weil ja alle Fäden irgendwie miteinander verbunden sind. Das heißt nicht, dass alles voneinander unabhängig ist, im Gegenteil: Wenn ich einen Teil dieses Systems – nennen wir es Marionette – betätige, verändert sich immer auch ein anderer Körperteil der Figur. Und das muss ich permanent ausgleichen. Das ist ein unglaublicher körperlicher und mentaler Aufwand, der im idealfall aber so ablaufen soll, dass er fast automatisch funktioniert. ich darf nicht denken: »Jetzt erhöhe ich die grain size oder die Wiederholungsrate !« Es muss alles völlig selbstverständlich und intuitiv ablaufen.
HUBER: Ein jüngerer Trend im Diskurs über elektronische Musik geht ja in Richtung der Untersuchung der »Bodily Expression in Electronic Music« (Peters/Eckel/Dorschel 2012) und mit »Reclaiming Performativity« einher. Das häufig so steril gedachte Aufführungssetting von elektronischer Musik wird auf einmal neu gedacht – also dahin gehend, dass dieser elektronische Klang einerseits durchaus körperlich wahrgenommen wird, aber andererseits auch von Verkörperungen jeder Art lebt, die sehr wohl performative Qualitäten haben.
Du verwendest auf deiner Wagneriana-CD den Untertitel Deconstruction. Mit Dekonstruktion verbindet sich bekanntlich eine im Grunde genommen anti-hermeneutische Zugriffsweise. Wenn man aber einen Übersetzungsakt im landläufigen Sinne als einen ansieht, der zunächst einmal darauf beruht, dass ein Quelltext verstanden wird, würde ein Akt der Dekonstruktion geradezu das Gegenteil einer Translation bedeuten. Aber du hast deinen Titel ja mit gutem Grund gewählt. Wie vermittelst du zwischen diesen beiden Modellen?
ESSL: Wenn man sich zum Beispiel irgendein Bauwerk anschaut, dann sieht man es in der Regel nur von außen als Oberfläche. Mit Hilfe der Dekonstruktion – wenn man das Bauwerk abreißen würde – kann man eigentlich erst in die Eingeweide schauen, um zu sehen, wie es aufgebaut ist. Dadurch wird die tragende Hintergrundstruktur freigelegt, die wir zuvor nicht kannten. Dieser dekonstruktive Akt ist nicht nur bloß eine Zerstörung, sondern vielmehr auch ein Mittel, um Verborgenes freizulegen. Wenn man immer nur die gleichen Oberflächen sieht oder hört, ist man irgendwann gesättigt. Aber in dem Moment, in dem man merkt, dass sich die Dinge anders zeigen, ist man auch als Hörerin anders gefordert. Das heißt, ich höre nicht nur einer Folie entlang, die ich mir eingeprägt habe – »Ah, der Walkürenritt !«. Man denkt sich vielmehr: »Hoppala, was ist denn da los ?«. Das fordert uns ganz anders heraus; das erzwingt auch eine neue Art der Bewertung. Nun ist man nicht mehr bloß Nachvollzieherin eines vorgegebenen Musikstücks, das eben Wagner sich ausgedacht hat, sondern wird sozusagen selbst zur/zum Autorin.
in: Performing Translation. Schnittstellen zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft, hrsg. von Werner Hasitschka (Löcker: Wien 2014), S. 238-251. - ISBN: 978-3-85409-743-3
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Updated: 2 Jan 2020