Vor 25 Jahren veränderte die Begegnung mit Gottfried Michael Koenigs Streichquartett 1959 mein musikalisches Weltbild. Fasziniert von diesem fremden, irgendwie aber auch vertraut wirkenden Werk wandte ich mich hilfesuchend an den Komponisten. Denn mit meinem analytischen Instrumentarium, das an Webern geschärft war, kam ich hier nicht weiter. In einem langen Briefwechsel gewährte mir Koenig tiefe Einblicke in sein kompositorisches Denken, das Ernst machte mit der radikalen Forderung nach einer Musik, die sich weder auf historische Modelle noch auf klangliche Vorstellungen stützt, sondern gleichsam synthetisch aus der Kraft der Konstruktion erwächst. Paradoxerweise war es aber zunächst gerade jener "musikantische" Aspekt, der mich an Koenigs Streichquartett faszinierte, auch wenn sich dieser - "malgré lui" - aufgrund klug disponierter Algorithmen ergab. Die Dialektik zwischen Zufall und Notwendigkeit wird hier mit höchster Kunstfertigkeit zelebriert und darüber hinaus zu einem Modell dafür, was Musik sein kann: klanggewordene Utopie aus dem Geist der Abstraktion.
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AbstractAnhand der Rekonstruktion von Koenigs Streichquartett 1959 wird die Funktion des Zufalls im Kompositionsprozeß untersucht. Im seriellen Denken Koenigs spielt der Zufall die Rolle eines Varianzfaktors, der innerhalb von Möglichkeitsfeldern, die durch eine "Strukturformel" beschrieben werden, intersubjektive Entscheidungen trifft. Determiniertes und Indeterminiertes werden nicht länger als Gegensätze betrachtet, sondern als Extremwerte von vermittelbaren Ordnungsgraden. Dadurch wird das serielle Permutationsprinzip verallgemeinert und das Reihenprinzip überwunden. Diese Denkweise findet in computerunterstützten Kompositionsverfahren ("Computer Aided Composition"), die Koenig im Anschluß daran entwickelt hatte, ihre konsequente Weiterführung. |
Besagte Theorie möchte aufzeigen, daß man es in der Musik primär mit zeitlichen Prozessen zu tun hat. Die Bestimmungsgrößen des Tones - seine Höhe, Dauer und Klangfarbe - lassen sich als Funktionen der Zeit beschreiben: die Frequenz als Anzahl der Grundtonschwingungen pro Sekunde, die Dauer als zeitliche Ausdehnung, zuletzt die Farbe als Überlagerung von Obertönen und Spektren in der Zeit. Wenngleich es sich dabei um unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche handelt, drücken sich in ihnen zeitliche Vorgänge in den verschiedenen Wirkungsebenen der Zeit aus. Farbe und Tonhöhe sind im Bereich der "Mikro-Zeit" angesiedelt, während sich die Aspekte von Rhythmus und Form in der "Makro-Zeit" abspielen. Koenig zufolge wären zum Beispiel "fünf Minuten - eine Formeinheit, fünf Sekunden - eine Tondauer, eine fünftel Sekunde - eine rhythmische Größe, eine fünfhundertstel Sekunde - daß Maß für eine Tonhöhe" [3].
Die Grenzen dieser Zeitbereiche sind jedoch nicht hermetisch gegeneinander abgeriegelt, sondern permeabel. So können qualitativ unterschiedliche Parameter - etwa Rhythmus und Tonhöhe - unmerklich ineinander übergehen. Nimmt man einen Pingpong-Ball und läßt diesen auf eine Tischplatte fallen, so wird der Abstand seiner Prallimpulse kontinuierlich kleiner, bis aus einer raschen, sich beschleunigenden Pulsation plötzlich ein Tonhöheneindruck entsteht. Dieser Effekt tritt in dem Moment ein, wo unsere auditive Wahrnehmung den Unterschied zwischen zwei Ereignissen nicht mehr aufzulösen imstande ist, etwa im Bereich 1/20 Sekunde. Zugleich entspricht dieser Wert der unteren Begrenzung des Hörbereiches - also einer Frequenz von ungefähr 20 Hertz. Werden hingegen nicht Impulse beschleunigt, sondern eine genügend große Anzahl rhythmisierter Klangschichten miteinander überlagert (wie dies im elektronischen Studio mit dem synchronen Abspielen vorgefertigter Tonbandschleifen einfach zu bewerkstelligen ist), so werden die einzelnen rhythmischen Vorgänge nicht mehr als solche erlebt, sondern schlagen um in eine neue Qualität: die Bewegungsfarbe. Klang als solcher ist nun selbst komponierbar geworden und nicht länger bloß Mittel zur Darstellung der Komposition. Diese Erfahrungen, die Ligeti im Kölner Elektronischen Studio während seiner Zusammenarbeit mit Koenig gewonnen hatte, auf die Instrumentalmusik angewendet, führten zur Konzeption und Ausarbeitung der späterhin so genannten "Klangflächenkompositionen", wie sie in den Orchesterwerken Apparitions (1958/59) und Atmosphères (1961) erstmals realisiert wurden [4].
Wenn sich nun Rhythmus, Tonhöhe und Klangfarbe als Funktionen der Zeit darstellen, die in ihren verschiedenen Bereichen angesiedelt sind und ineinander übergehen können, so verlangt dies eine kompositionstechnischen Vereinheitlichung der Parameterbehandlung. Die Ansätze, die im Bereich der Tonhöhen ("Mikrozeit") gelten, haben auch auf dem Gebiet der Dauern ("Makrozeit") ihre Berechtigung. So lassen sich - ebenso wie Tonhöhen - auch Zeitwerte in "Zeitoktaven" zusammenfassen. Die Oktave, als Verhältnis von 2 : 1 definiert, wird im temperierten chromatischen Tonsystem in 12 gleich groß empfundene Glieder unterteilt. Die Relation zwischen zwei Halbtönen ist immer konstant und wird durch den "Proportionalitätsfaktor" ausgedrückt; die 12. Wurzel aus 2.
Auf gleiche Weise läßt sich eine "chromatisch temperierte Skala der Dauern" [5] konstruieren. Die Dauer kann im herkömmlichen Notationssystem indes nur metronomisch bezeichnet werden, wobei die metrische Bezugseinheit (= der Grundzeitwert: zum Beispiel die ganze Note) durch Tempoangaben differenziert wird. In Stockhausens Beispiel wird eine Dauernskala im Bereich zwischen einer und einer halben Sekunde (einer "Dauernoktav" also) konstruiert, wobei folgende Metronomzahlen, bezogen auf die ganze Note, auftreten:
MM = 60.0 MM = 84.9 = 63.6 = 89.9 = 67.3 = 95.2 = 71.4 = 100.9 = 75.6 = 106.9 = 80.1 = 113.3Die nächste Dauernoktave liegt im Bereich einer halben und einer viertel Sekunde, also zwischen MM = 120 und MM = 226. Diese läßt sich aber ebenso durch den Wechsel der metrischen Bezugseinheit, des Grundzeitwertes, erreichen. Statt einer ganzen Note steht nun die Halbe, in der folgenden Zeitoktave die Viertel etc. etc.
In Analogie zum Obertonspektrum werden nun die Grundzeitwerte im Verhältnis
harmonisch geteilt [6]. Die einzelnen Komponenten des so erhaltenen "Phasenspektrums" werden als Formanten bezeichnet. Ist der Grundzeitwert ein Viertel, ergibt dies eine Skala aus Viertel, Achtel, Triole, Sechzehntel, Quintole bis zur Dezimole, Undezimole und Duodezimole.
So lassen sich Zeitoktaven, deren rhythmische Bezugseinheit im Sinne von Formanten unterteilt wird, seriell vordisponieren. Diese bestimmen die durchschnittliche Dichte innerhalb eines Tempoabschnittes, wodurch sich folgende Beziehung ergibt:
Dabei ist jedoch zu beobachten, daß das Verhältnis zwischen Dauer (= Tempo) und rhythmischer Artikulation dynamisch ist und Gegenkräfte auftreten, die zu rhythmisch vieldeutigen Situationen führen können. So entspricht die zeitliche Ausdehnung einer Viertel im Tempo MM = 60 einer Halben in Tempo MM = 120; eine Gruppierung von Achteltriolen kann durch Formant 3 in der "unteren" Zeitoktave enstehen, ebenso mittels Formant 6 in der nächstfolgenden.
Für eine zwölffache Unterteilung von "Dauernoktaven" und Grundzeitwerten besteht freilich keine zwingende Notwendigkeit. Die Zwölfteiligkeit, als unserem westlichen Tonsystem historisch vermittelt, hat allein dort ihre Berechtigung. Diese Verhältnisse jedoch auf die übrigen Parameter zu übertragen, ist daraus nicht zu rechtfertigen, selbst wenn erkannt wurde, daß die Bildungsprinzipien der Tonhöhenreihe auch für andere Zeitfunktionen Geltung besitzen.
Während Stockhausen die serielle Methode als Mittel zum konkreten Zweck verwendet und sie immer dann erweitert oder angepaßt hat, wenn der Zweck es verlangte, sind Koenigs theoretische Einsichten frei von Zweckmäßigkeitsüberlegungen dieser Art. Das bedeutet nun keinesfalls, daß Koenig an der Musik vorbeitheoretisiert. Ihm geht es in erster Linie um die allgemeine Formulierungen musikalischer Sachverhalte, in denen das Besondere im Allgemeinen aufgehoben erscheint. Mit ihrer Hilfe lassen sich musikalische Wirklichkeiten gleichermaßen analysieren und synthetisieren. Im Unterschied zum System erweist sich die Theorie als "offen", da sie nicht auf einen Spezialfall zurechtgeschneidert ist, sondern eine Vielfalt möglicher Systeme beschreiben kann.
Materialliste [C C# D D# E F F# G G# A B H] Reihenfolge [2 10 3 12 11 1 7 5 6 9 4 8] _____________________________________________ Resultat: [C# A D H A# C F# E F G# D# G]Die Zahl wird also zum Abbild von Teilaspekten der musikalischen Wirklichkeit, wodurch diese beherrschbar und von Rationalität durchdrungen wird [9]. Sie selbst tritt nur in einer kompositorischen Zwischenebene in Erscheinung: dort, wo sie zur Zahlenstruktur verarbeitet wird. Sie dient lediglich zur Beschreibung und Darstellung musikalischer Gegebenheiten. Niemals aber verweist sie auf sich selbst etwa im Sinne eines kabbalistischen Symbols. Dies geschieht in der - asketischen - Absicht, "ganz aus Amorphem die Individualität zu konstruieren" [10]; ein Vorgang, der sich schematisch etwa so darstellen läßt:
"Wirklichkeit" "Wirklichkeit" (Geschichte, Stil, Erfahrung) (die fertige Komposition) ANALYSE SYNTHESE | ^ | | Übersetzung | | Interpretation | | | | v | Verarbeitung Zahl -------------------------> Zahlenstruktur BerechnungDurch diesen hohen Grad der Abstraktion ist gewährleistet, daß - wenngleich primär Zeitvorgänge gestaltet werden - man sich in einem kompositorischen Bereich außerhalb der realen Zeit befindet. Komposition findet dort auf einer abstrakten, numerischen Meta-Ebene statt, die erst in einem weiteren Arbeitsgang - der Interpretation - wieder in die Bereich der Notation und damit in den der musikalischen Wirklichkeit zurückübersetzt wird. Wie in der folgenden Analyse von Koenigs Streichquartett 1959 gezeigt werden soll, fordern die auf einer numerischen Zwischenebene ausgearbeiteten musikalischen Daten zu einer Interpretation heraus, die jedoch kontextabhängig erfolgt, und so - fernab von jeglichem starren Automatismus - der Verantwortung des Komponisten obliegt.
Die Enstehung dieser Konzeption von Musik und Zahl ist auf die Erfahrungen im Elektronischen Studio zurückzuführen. Dort, wo die Ebene der musikalischen Notation überhaupt wegfällt, wird die numerische Übersetzung kompositorischer Daten und Vorgänge zu einer unabdingbaren Forderung bei der Realisierung elektronischer Musik. Die Notwendigkeit der Abstraktion ergibt sich zudem aus den Gegebenheiten des Studios, wo man es mit technischen Apparaturen zu tun hat, deren - durch Regler - veränderbare Größen den Parametern entsprechen. Die Skaleneinstellungen der Reglerknöpfe stehen für die jeweiligen Parameterwerte; diese codieren die Aktion des Komponisten bei der Realisation der elektronischen Partitur.
Material-Liste [a b c d e f g] | | Selektion | (Selektionsregel) | v Datenfeld [a c d g] | | Elementwiederholung | (Multiplikationsreihe) | v Wdh.-Liste [a a a c d d g g g g g] | | Reihenfolge | (Permutationsregel) | v Ergebnis [c d g g a g g d a g a]
Die Einführung der Elementwiederholung beruht wohl auf einer Einsicht, die Koenig bei der Realisierung elektronischer Musik gewonnen hat. Beim Abspielen einer einzigen Grundphase eines Klanges wird dieser nur als Knacks vernommen. Erst durch mehrfache Wiederholung der Phase wird der Klang als solcher hörbar: er tritt als periodischer Vorgang in Erscheinung. Die Anzahl der Wiederholungen läßt sich durch eine Multiplikations- Reihe seriell bestimmen. Je weniger periodische Vorgänge innerhalb eines Klang stattfinden, desto mehr tendiert er zum Geräusch, das sich bekanntlich durch Aperiodizität auszeichnet. Durch Vermittlung zwischen periodischen und aperiodischen Vorgängen lassen sich im Studio alle Zwischenbereiche von Klang zum Geräusch auskomponieren.
Auf ähnlichen Überlegungen basiert Koenigs Kompositionsprogramm Projekt 1 (1964 ff.) [14]. Die zuvor im Bereich des Klanges (also der "Mikro-Zeit") betrachteten Vorgänge erscheinen hier in die "Makro-Zeit" transferiert. Es werden periodische und aperiodische Texturen unterschieden. Im ersten Fall wird ein gewählter Parameterwert (z.B. eine Dynamikangabe) mehrmals wiederholt, ehe der nächste folgt. Eine rein aperiodische Textur hingegen reiht die Parameterdaten ohne Wiederholung aneinander und bildet so den klassischen Fall einer "Reihe". Diese beiden Extreme werden sind durch einen 7stufigen Prozeß vermittelt, der gleichsam "digitale" Übergänge zwischen periodischen und aperiodischen Vorgängen schafft. Jeder der fünf Parameter (Instrument, Rhythmus, Harmonie, Oktavlage und Dynamik) wird für einen Formteil hinsichtlich seiner Periodizität bestimmt; die Struktur und der spezifische Charakter eines Abschnittes entstehen durch Überlagerung aperiodischer bzw. periodischer Parameter-Ströme.
Das von Koenig angewandte Wiederholungsgebot erscheint als allgemeine Formulierung von Stockhausens Gruppenkomposition. Zunächst war "mit 'Gruppe' (...) eine bestimmte Anzahl von Tönen gemeint, die durch verwandte Proportionen zu einer übergeordneten Erlebnisqualität verbunden sind" [15]. Eine Gruppe wird auf Grund von Merkmalen definiert, die alle Elementen gemeinsam aufweisen. Eine andere Definition erfährt das Gruppenprinzip in dem Aufsatz "... wie die Zeit vergeht ...", wo Stockhausen erstmals den Begriff der Multiplikationsreihe verwendet; sie reguliert, "wie oft jede der Elementgruppen permutiert werden sollte" [16].
Unter einer "Gruppe" werden in beiden Fällen unterschiedliche Dinge verstanden. Zunächst handelt es sich um globale Zustandsbeschreibungen musikalischer Strukturen, wie sie Stockhausen an Hand des Klavierstückes I (1952) erläutert. In Bezug auf die Komposition der Gruppen (1955 - 57) hingegen wird ein technisches Prinzip - nämlich die Anzahl der Permutationen - ins Treffen geführt; "alle mikrozeitlichen Vorgänge (sollten dadurch) mit den makrozeitlichen in Einklang" gebracht werden [17]. Gleich bleibt in beiden Fällen jedoch die beabsichtigte ästhetische Wirkung - mit Hilfe des Gruppenprinzips soll der "punktuelle" Stil zugunsten übergeordneter Erlebnisqualitäten aufgehoben werden.
Für Koenig spielt nur der "reduzierte Zufall" eine Rolle. "Wir wollen darunter eine einmalige aleatorische Entscheidung innerhalb eines Feldes möglicher Entscheidungen verstehen oder doch so weniger Entscheidungen, daß der Zufallscharakter empirisch nicht in Erscheinung tritt; der Zufall lenkt zwar, wird aber nicht als solcher erkannt" [19].
Ein Feld ist als die Gesamtheit der möglichen Zustände zu denken, die ein System bietet. "Der Feldinhalt (...) besteht aus der Summe dessen, was musikalisch-strukturell investiert wurde; nicht bloß aus der Menge der akustischen Elemente selber, sondern aus ihrer charakteristischen Reihenfolge, der Häufigkeitsverteilung, aus Sprüngen, Übergängen, Verschmelzungen, Nachbarschaftsbeziehungen und Kontrasten. Solche Eigenschaften resultieren aus systematischen Manipulationen (...), oder aber auch aus Zufallsmanipulationen innerhalb so enger Grenzen, daß diese wie punktuelle Größen "herausragen" und damit ein Gerüst bilden, an dem sich der Hörer orientieren kann. (...) (Dadurch) lassen sich dem Feld Grade der Durchsichtigkeit oder der Kohärenz verleihen, die freilich kaum einem System untergeordnet werden können" [20].
Die Idee der Feldkomposition geht wieder auf Stockhausen zurück. An die Stelle exakt definierter Elemente treten nun Feldgrößen, die den Bereich angeben, innerhalb dessen sich ein musikalischer Vorgang abspielen soll [21]. Stockhausen hat den Begriff des Feldes vor allem in Hinblick auf die rhythmische Interpretation eines Notentextes durch den Spieler entwickelt, wie es in den Zeitmaßen (1956) für Bläserquintett seinen Niederschlag gefunden hat. Wieder handelt es sich um einen Spezialfall, der an Hand eines konkreten Beispiels entwickelt wurde. Der Begriff des Feldes ist bei Stockhausen mit Konnotationen wie "Massenstruktur" und "Unsicherheitsfaktoren" verkoppelt - dementsprechend wird als neue Notationsform die von John Cage entwickelte space notation angeführt [22] -, während es sich bei Koenig um ein allgemein formuliertes Kompositionsprinzip handelt, mit Hilfe dessen jeder musikalischer Zustand zwischen den Extremen "solistische Einzelstimme" und "komplexe Massenstruktur" generiert werden kann.
Ein Feld, wie es Koenig definiert, liefert eine globale Zustandsbeschreibung im Sinne einer Strukturformel, die sich in unzähligen Varianten realisieren läßt. Hier ist also das Konzept der "offenen" Form in die Kompositionstechnik selbst eingegangen und hat dort seine adäquate Darstellungsweise gefunden. Das Feld ist weit mehr als eine bloße Anhäufung von Daten; es beinhaltet vorstrukturiertes Material, welches Vermögen besitzt, Charaktere auszubilden, die sich durch typische Einheitsmerkmale auszeichnen. Dadurch lassen sich Strukturen, die verschiedenen Feldern entstammen, voneinander unterscheiden, wodurch eine Voraussetzung geschaffen wird, um Form plastisch zu artikulierten. "Wenn Felder aufeinander folgen, treten sie in Beziehung; diese Beziehungen sind um so leichter aufzufassen, je mehr verwandte Elemente manifest oder suggeriert werden. (...) Verwandte Felder offenbaren Verwandschaftsgrade und damit einen systematischen - oder systematisierbaren - Gehalt. Felder sind in der Tat "offene" Formen (...): ihr Inhalt kann zufallsbestimmt oder systematisch sein, ebenso kann in ihrer Folge ein systematischer Gedanke sich ausbilden (Formtendenz) oder ein Spiel des Zufalls sich äußern" [23].
Die "Strukturformel" enthält in konzentriertester Form die "Idee" des Stückes und wird durch die Aspekte des Materials und die Prozesse der Materialverarbeitung definiert. Bei Anwendung aleatorischer Methoden dient sie zur Beschreibung der "offenen" Form, die nicht eine einzige Lösung, sondern die Menge derer, die innerhalb der Grenzen des Möglichkeitsfeldes beschlossen sind, enthält.
Die hier beschriebene Vorgangsweise bedarf einer adäquaten Produktionsmethode, die Koenig zu Beginn der 60er Jahre in der elek-tronischen Datenverarbeitung gefunden hat. Der Computer realisiert die Strukturformel, die der Komponist als Programmcode eingibt. In der Interaktion mit dem Computer kann der Komponist die Tragweite seiner kompositorischen Planung erkennen. Ist er mit den Resultaten nicht einverstanden, muß er die Strukturformel solange modifizieren, bis Intention und Ergebnis zur Deckung gebracht sind.
Die Dialektik von Subjekt und Objekt spiegelt sich auch im Spannungsfeld zwischen mechanischen und spontanen Komponenten wider. Diesem begegnet man auf Schritt und Tritt im elektronischen Studio, wo die kompositorischen Vorgänge durch mechanische ausgedrückt werden: die Veränderung einer musikalischen Größe wird durch das Verstellen eines Regelknopfes bewirkt, eine Transformation etwa durch eine besondere Verschaltung oder Tonbandmanipulation. Koenig ging es vor allem darum, "die Demarkationslinie zwischen mechanischer Arbeit beim Komponieren und dem nicht vorweg Definierbaren zu bestimmen - und schrittweise nach vorn zu verlegen" [29]. "Mir war bewußt", heißt es weiter, "daß schöpferische Arbeit ohne Rückgriff auf Gewußtes und mechanisch Anwendbares unmöglich sei (wie das Sprechen ohne Grammatik), daß aber auch dieser Rückgriff noch zu den kreativen Akten zählt. Ich habe dann bei eigenen Kompositionsversuchen (...) bemerkt, daß eine Mechanik ohne spontane Eingriffe musikalisch unbefriedigend bleibt (...). Experimente im elektronischen Studio haben mir dies bestätigt. Ich begab mich also auf die Suche nach geeigneten Einsatzstellen fürs Spontane innerhalb des Mechanischen. Es kann ihm vorausgehen, ihm folgen, oder mittendrin stattfinden". Dies beschränkt sich jedoch keineswegs auf die Arbeit im elektronischen Studio, wenngleich diese Überlegungen hier entwickelt worden sind. So wird etwa im Streichquartett 1959 zunächst eine abstrakte Struktur errechnet, die erst durch die "spontane" Reaktion und Interpretation des Komponisten zur musikalischen Gestalt wird.
Während sich bei Stockhausen eine schrittweise Wendung vom "mechanischen" zum "spontanen" Komponieren feststellen läßt, sind in Koenigs kompositorischem Denken beide Antipoden fest verankert. Das zuvor erwähnte Kompositionsprogramm Projekt 1 ist im Wesentlichen auf diesem Begriffspaar aufgebaut. Sowohl am Anfang (bei der Wahl der Eingabedaten) als auch am Schluß (wo der Output durch Interpretation umgeformt wird) stehen die Entscheidungen des Komponisten, während der eigentliche Rechenvorgang ohne äußere Eingriffsmöglichkeiten im Inneren des Computers abläuft. Das Subjekt umschließt als erste und letzte Instanz wie eine Klammer den gesamten Kompositionsprozeß: die Mechanik des Programms wird durch die gewählten Eingabedaten gesteuert und der numerische Output durch Interpretation in die tatsächlich erklingende Gestalt übersetzt.
[2] Gottfried Michael Koenig, Kommentar. Zu Stockhausen: ...wie die Zeit vergeht... Zu Fokker: Wozu und Warum? Und zur augenblicklichen Praxis aus der Sicht des Autors; in: die Reihe, Band VIII (Wien 1962), S. 73 ff.
[3] in: Ursula Stürzbecher, Werkstattgespräche mit Komponisten (Köln 1971), S. 1971.
[4] György Ligeti Conversation (London 1983), Interview mit Péter Várnai (1978), S. 39.
[5] Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., S. 24.
[6] Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., S. 19 f.
[7] Die in Stockhausens Aufsatz gegebenen Notenbeispiele und die zugrunde liegende Allintervallreihe (ebda., S. 25) beziehen sich auf die Komposition der Gruppen. Koenig hat dieses Stück im letzten Teil seines "Kommentares" (S. 83 f.) analysiert und nachzuweisen versucht, daß Stockhausens Zeitkonzeption schlüssig in der Komposition aufgegangen ist.
[8] Karlheinz Stockhausen, Texte, Bd. 4 (Köln 1978), hrsg. von Christoph von Blumröder, S. 13.
[9] Der Begriff der Rationalität wird hier - entgegen seiner zunehmenden Depravierung in letzter Zeit - in der ursprünglichen positiven Bedeutung als "Kennzeichnung eines in bezug auf eine gegebene Situation 'stimmigen', angemessenen, sinnvollen Verhaltens, das auf Einsicht gegründet ist" (in: Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Mannheim - Wiesbaden - Zürich 1983) verwendet.
[10] Gottfried Michael Koenig, Musik und Zahl (msch., Köln 1957/58), S. 13 - vgl. den Abdruck in diesem Heft, S. 24.
[11] Koenig, Kommentar, S. 84.
[12] Gottfried Michael Koenig, Serielle und aleatorische Verfahrensweisen in der Elektronischen Musik; in: Electronic Music Reports, No. 4 (Utrecht 1971), S. 107.
[13] Gottfried Michael Koenig, Serielle und aleatorische Verfahrensweisen, S.105.
[14] Eine kurzgefaßte Einleitung in dieses Kompositionsprogramm findet sich in: Gottfried Michael Koenig, Projekt Eins - Modell und Wirklichkeit; in: Musik und Bildung (1979/12), S. 752 ff.
[15] Karlheinz Stockhausen, Gruppenkomposition: Klavierstück I (Anleitung zum Hören); in: Texte, Bd. 1 (Köln 1963), hrsg. von Dieter Schnebel, S. 63.
[16] Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., S. 18.
[17] Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., S. 18.
[18] Karlheinz Stockhausen, Nr. 7: Klavierstück XI (1956); in: Texte, Bd. 2 (Köln 1964), hrsg. von Dieter Schnebel, S. 69 f.
[19] Gottfried Michael Koenig, Musik in ihrer technischen Rationalität (msch. 1961); zitiert nach Konrad Boehmer, Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik (Darmstadt 1988 - 2. Auflage), S. 117.
[20] Gottfried Michael Koenig, System und Zufall in der Musik und in der elektronischen Klangproduktion (msch. 1966/67), S. 24 f. - gedruckt in Englisch als: Remarks on Compositional Theory; in: ders., Summary. Observations on Compostional Theory (Utrecht State University, Institute of Sonology, Utrecht 1971), S. 9. ff.
[21] Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., S. 33 f.
[22] Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., S. 36 f.
[23] Koenig, System und Zufall, S. 24.
[24] Koenig, System und Zufall, S. 20.
[25] Boehmer, Zur Theorie der offenen Form, S. 190.
Siehe: György Ligeti, Form; in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. von Ernst Thomas, Bd. X (Mainz 1966), S. 28.
[26] Gottfried Michael Koenig, Ligeti und die elektronische Musik; in: Ligeti. Personalstil - Avantgardismus - Popularität (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 19, hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien 1987), S. 13.
[27] Bei einem Rhizom handelt es sich um das Modell eines wild wuchernden Wurzelstockes, der - im Gegensatz zum aufwärtstrebenden Baum - kein richtungsbestimmtes Wachstum zeigt. - Siehe: Gilles Deleuz und Félix Guattari, Rhizom; in: Mille plateaux (Paris 1980), S. 9.f.
[28] Brief an den Verfasser vom 18. Dezember 1988.
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Updated: 5 Jan 2022