Karlheinz Essl
Das Arbeitsfeld des Künstlers spiegelt zu allen Zeiten die jeweiligen gesellschaftlichen und technologischen Zustände wider. Durch die rasante Entwicklung und die Verfügbarkeit neuer Technologien und Informationsstrukturen verändert sich auch der Schaffensbereich des Komponisten: ein Umbruch zeichnet sich ab.
An Hand der eigenen kompositorischen Arbeit soll diese Veränderung an Hand einiger konkreter Beispiele aufgezeigt werden. Sie beleuchten exemplarische Ausschnitte eines erweiterten Arbeitsfeldes, das sich vom vielbeschworenen "Elfenbeinturm" zu distanzieren versucht.
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Durch die Dokumentation des jeweiligen Standes der künstlerischen Arbeit und der Reflexion darüber auf einer Website mutiert der hermetische Vorgang des Komponierens "in splendid isolation" zu einem transparenten Prozess, der für jeden einsichtig ist.
Die dem World-Wide Web zugrundeliegende Seitenbeschreibungssprache HTML erlaubt es, Dokumente durch Verweise (sog. Links) miteinander zu verbinden. Dies ermöglicht eine multidimensionale Form der Informationsvernetzung, die sich zudem jederzeit verändern und erweitern läßt. Der starre Korpus des einst im Druck kodifizierten und nachträglich nicht mehr modifizierbaren Textes wird dadurch zu einem Fluidum. Dank der Hyperlinks mag er über seine eigene Beschränktheit hinausweisen: nicht nur auf andere Texte (wie Kommentare, Ergänzungen, Kritiken, Reflexionen, Thesauri etc.) sondern auch auf Bilder und Klänge. Damit lassen sich komplexe Projekte von ihrem Anbeginn multimedial dokumentieren, wie zum Beispiel das work-in-progress fLOW (1998/99): Diese oftmals kryptische Anweisungen sollen zur kreativen Interpretation herausfordern und dienen den mitgestaltenden Musikern als mentale Vorbereitung zur Hinterfragung (und - womöglich - zur Überwindung) verinnerlichten Spielverhaltens und eingelernter Improvisationsklischees. |
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An Stelle geschlossener Werke (die als Partituren vorliegen) treten offene Prozesse und Versuchsanordungen, in die andere Musiker und Komponisten interaktiv eingebunden werden. So wäre beispielsweise das "work-in-progress" Amazing Maze (1996 ff.) für Computer und Live-Musiker ohne das Internet undenkbar.
Ursprünglich war dieses Stück als echtzeitgenerierte Klanginstallation konzipiert und wurde in dieser Form beim NEMO '96 Festival in Chicago eingereicht. Ohne meine Einflußnahme nahm die weitere Entwicklung eine ungeahnte Wendung. Der Kurator des Festivals, der Komponist R. Albert Falesch, reagierte in berührender Weise, indem er mir anbot, die Komposition selbst zur Uraufführung zu bringen. Er sah in darin nicht bloß eine Musikinstallation, sondern vielmehr ein Instrument, mit dem sich - zusammen mit Live-Instrumentalisten - trefflich musizieren ließ. Dies bot den Anstoß für eine Kette von spannenden Metamorphosen: in einem intensiven (über E-Mail ausgetragenen) Diskurs entwickelten wir gemeinsame Strategien zur Aufführung, was schließlich in der verbalen Beschreibung eines dramaturgischen Verlaufs gipfelte. In dieser Form wurde "Amazing Maze" am 6. 5. 1996 gemeinsam mit dem Baßklarinettisten Gene Coleman in der Public Library in Chicago aus der Taufe gehoben. |
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Der Cyberspace selbst wird zum Terrain einer sich neu herausbildenden Kunstform (webArt), welche die technologischen, formalen und inhaltlichen Möglichkeiten (aber auch Begrenzungen) des Webs in einer völlig neuartigen Weise mit Inhalten erfüllt, ohne die simple Übertragung eines alten Mediums in ein neues zu betreiben. In diesem Bereich verschwimmen auch die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstformen. Darüber hinaus bietet sich hier die Zusammenarbeit mit KünstlerInnen aus anderen Sparten an, wie etwa in der multi-medialen Web-Installation MindShipMind (1996-98), die gemeinsam mit der kalifornischen Videokünstlerin Vibeke Sørensen entstand.
Erste Vorarbeiten dazu entstanden 1996 in Kopenhagen während eines 3wöchigen interdisziplinären Symposions zum Themenkomplex "Order, Beauty and Complexitiy", zu dem 35 Wissenschaftler und Künstler aus der ganzen Welt eingeladen waren. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Ansätze in ihren divergierenden sprachlichen Formulierungen wurden von uns gesammelt und mittels Zufallsoperationen (basierend auf der Transformation mehrdimensionaler Markov-Ketten) durcheinander gemischt und neu zusammengesetzt. Dadurch konnten wir das rein Faktische zugunsten von neuen, nicht-intendierten Textkonglomeraten auflösen, in denen sich die verschiedenen Texte streng nach grammatikalischen Regeln durchdrangen. Die Resultate erscheinen grammatikalisch zwar korrekt, inhaltlich aber oft abstrus und nebulös. Der Betrachter wird damit konfrontiert und aufgefordert, ganz im Sinne des Radikalen Konstruktivismus einen individuellen "Sinn" darin zu erkennen. |
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Neben Partituren, die traditionell über Verlage distribuiert werden,
entwickelte ich in Champ d'Action (1998) für computer-gesteuertes Ensemble eine neuartige Form fluider und interaktiver musikalischer Notation.
Champ d'Action (auf deutsch etwa "Aktionsfeld") basiert auf 8 charakteristischen kompositorischen Strukturtypen, die als Modelle definiert sind. Durch Veränderung der Modellparameter - von einem Dirigenten via Computer während der Aufführung gesteuert - lassen sich daraus unterschiedlichste Varianten erzeugen, die von den Musikern improvisando in Klang umgesetzt werden. Dieses Notationprinzip ist mit dem traditionellen Konzept von Notenproduktion und -vertrieb nicht kompatibel und existiert daher einzig und allein im Internet: Das Stück kann als Macintosh-Software aus dem Internet heruntergeladen werden; darüber hinaus gibt es auch eine in JavaScript implementierte Fassung, die plattformunabhängig mit jedem Web-Browser angezeigt werden kann. |
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Meine generelle Absicht, geschlossenen Werken offene Prozesse entgegenzusetzen, findet seine adäquate Konkretisierung in einer radikalen Methode: das musikalische Werk existiert nun nicht mehr als interpretier- und reproduzierbare Code (sei es als gedruckte Partitur oder gespeicherter Klang), sondern einzig und allein als Software. Diese generiert im Moment der Aufführung eine jeweils neue Variante des "Meta-Modells" in Echtzeit. Der Generierungsprozess kann entweder automatisch und autonom ablaufen, oder durch Veränderung der Systemparameter gesteuert werden. Durch Einsatz geeigneter Kontrollmöglichkeiten (Interfaces) wird das Computerprogramm schließlich zu einem Instrument. Dieser Vorgang läßt sich auch ins Internet übertragen, wo statt des bloßen Abspielens konservierter Klangdateien echtzeitgenerierte Musikformen erscheinen.
Ein Paradebeispiel dafür ist die unendliche Lexikon-Sonate (1992 ff.) für computer-gesteuertes Klavier. Dieses "work-in-progress" nahm seinen Ursprung als musikalischer Kommentar zu Andreas Okopenkos Lexikon-Roman (1970) - einem der ersten literarischen Hypertexte. Es existiert einzig als Computerprogramm, das in Echtzeit Klaviermusik komponiert und ohne jegliche spieltechnische Einschränkungen auf einem akustischen Player-Piano oder einem Synthesizer spielt. Jede Aufführung des Stückes ist einmalig und läßt sich nicht wiederholen.
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Article for the Proceedings of the EU-conference "Cultural Competence. New Technologies, Culture & Employment" (Linz, Oct 1-3 1998). - Basis for a lecture at the symposion KlangArt 99: "Global Village - Global Brain - Global Music" (Osnabrück, 9-13 June 1999).
Der Wiener Komponist Karlheinz Essl demonstriert anhand seiner eigenen Praxis, wie die Bedingungen der Möglichkeit zeitgenössischen kreativen Schaffens sich durch Einsatz der Kommunikationstechnologien grundlegend geändert haben. Womit der von manchen Experten prolongierte Dualismus von hoher und niederer Kultur ganz einfach durch eine andere Praxis ad absurdum geführt wurde. Die neuen Technologien ermöglichen auch kleinen Projekten, jenseits des Imperativs vom Markterfolg ihre eigene Kultur zu realisieren: kulturelle Praxis in elektronischen Netzwerken.
Essl bzw. seine Arbeit hätte sicher mehr verdient, als nur diesen kurzen Hinweis. Denn entgegen sonstiger Pseudo-Versuche einer "virtuellen Musik" (man denke an die unsägliche "Internet-Symphonie" einiger Herren), gelingt es dem Komponisten an vorderster Stelle neue Möglichkeiten einer "Musik im Netz" aufzuspüren, auszuloten und zur Verfügung zu stellen. In seiner Lexikon-Sonate etwa gelingt ihm mittels aufwendiger Programmierung "on the fly" eine immer neue Klaviermusik erfinden zu lassen, die dem Hörer binnen Sekunden zu Gehör gebracht wird. Essl sucht das "Kunstwerke in Bewegung", das den Besucher via Telefonleitung einlädt, gemeinsam mit ihrem "Hervorbringer das Werk zu machen". Er ist damit Pionier und zugleich Kreativster bei der Umsetzung in die digitale Realität. Seine Events, bei denen beliebige User von heimischen PC aus Einfluß auf die Musik des Live-Konzerts nehmen können, sind schon nachgerade legendär. Er hätte wirklich einen eigenen Artikel verdient.
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Updated: 19 Oct 2019