Ich werde heute über ein kompositorisches Projekt sprechen, das mich seit zwei Jahren beschäftigt. Davon möchte ich Ihnen zunächst die Spitze des Eisberges präsentieren: ein Klavierstück mit dem Titel Lexikon-Sonate, eine Komposition von unbestimmter bzw. unendlicher Dauer. Dieses Werk existiert nicht in Form von Notation oder als Partitur zwischen zwei Buchdeckeln, die man nach Hause tragen und sich ins Regal stellen kann. Es ist ein Werk, das noch nicht fertig ist und das nie fertig wird: ein "work in progress".
Sie werden sich nun fragen: Worin besteht dann das Stück? Es muß sich ja irgendwie materialisieren. Das Stück existiert als Computerprogramm und wird auf einem computergesteuerten Klavier gespielt. Vielleicht haben Sie davon gehört, daß die Firma Bösendorfer ein Klavier entwickelt hat, das ohne Pianisten auskommt, da es von einem Computer gespielt wird. Die Parameter des Klavierspiels - der Zeitpunkt des Anschlags, wie lange der Finger auf der Taste bleibt, die Stärke des Anschlages - werden dem Klavier als Steuersequenz geschickt, worauf es "von selbst" zu spielen beginnt. Üblicherweise werden damit profesionelle Musikaufnahmen gemacht: Ein Pianist spielt eine Komposition auf diesem Klavier, dabei wird aber nicht der Klavierklang, sondern nur die Fingeranschläge digital aufgezeichnet. Diese Aufzeichnung kann man dann später im Computer editieren, indem man etwa die falsch gespielten Töne ausbessert - wie in einer Textverarbeitung. Wenn man nun diese Sequenz von Anschlägen fertig korrigiert hat, schiebt man das Klavier ins Aufnahmestudio, stellt Mikrofone davor und läßt es nun alleine die eben korrigierte Sequenz spielen. Damit erreicht man perfekte, fehlerfreie Aufnahmen. Ich habe aber den umgekehrten Weg genommen. Ich spiele nämlich nicht etwas ein, was dann korrigiert und schließlich reproduziert wird. Nein, ich habe ein Computerprogramm geschrieben, das - in Echtzeit - Musik komponiert und auch selbst spielt.
Frage: "Ist das Programm von Ihnen selbst oder ist das ein Programm in einem Programm - wie bei einem Sequencer?"
Nein, es ist ein eigenes Programm, das ich dafür geschrieben habe. Bei der Entwicklung hatte ich leider keine Bösendorfer zu Verfügung, immerhin aber für die Uraufführung im Februar. Ich habe Ihnen heute stattdessen einen Steinway mitgebracht, und der ist ganz klein. Das ist er. (Zeigt auf ein kleines schwarzes Kästchen, das gesampelte Klavierklänge enthält und über MIDI angesteuert werden kann.)
Benutzeroberfläche der Lexikon-Sonate
vs. 3.2 (11 Jan 2007)
Clickable Map: Mit einem Doppelklick auf eines der Kästchen (z.B. "Esprit")
erhält man weitere Informationen über dieses Strukturgenerator und außerdem noch ein Hörbeispiel.
Die Lexikon-Sonate sprengt den Werkbegriff, weil sie sich nicht in die Tasche stecken läßt. Sie ist nicht reproduzierbar, sondern etwas "offenes". Jedesmal, wenn die Lexikon-Sonate sich selbst zu komponieren beginnt, komponiert sie sich völlig anders. Damit sie einen ersten Eindruck bekommen, spiele ich Ihnen einen Ausschnitt von einigen Minuten vor.
Dieses Klavierstück ist meine erste Arbeit fürs Klavier, abgesehen von ganz frühen Sachen. Ich muß gestehen, daß ich mit dem Klavier so meine Schwierigkeiten habe. Ich selbst bin Kontrabassist. Mich interessieren vor allem Klangprozesse, Entwicklungen von Klängen. Beim Klavier hingegen läßt sich der Klang kaum mehr verändern, wenn der Finger den Impuls abgesandt hat. Dennoch eignet sich das Klavier hervorragend als Mittel zur Darstellung musikalischer Strukturen und wurde dafür Vergangenheit häufig verwendet. Man denke nur an die Klavierauszüge von Opern und Symphonien, die damals die Schallplatte ersetzt haben. Wenn man eine Mozartsymphonie hören wollte, hat man sie vierhändig am Klavier gespielt. Und gewann dadurch einen recht guten Eindruck von der Komposition.
Mein Anspruch war nun: Wenn ich schon ein Klavierstück komponiere, dann möchte ich ein Hyper-Klavierstück schreiben, das die Grenzen des Sujets und auch des Instruments sprengt. Und ebenso auch den zeitlichen Rahmen. Indem hier nichts Vorgefertigtes existiert, sondern die Software die jeweilige Realisation der Lexikon-Sonate erst im Moment der Aufführung komponiert, besteht die Möglichkeit eines unendlichen zeitlichen Rahmens. Außerdem bin ich auch nicht an irgendwelche spieltechnische Beschränkungen gebunden, denn ich kann alle 88 Tasten in den feinsten Anschlagsnuancen gleichzeitig spielen, wenn ich möchte. Zuletzt wird aber auch der Werkbegriff gesprengt, denn die Komposition existiert nicht in Form von Noten, sondern einzig als Software.
Der Titel Lexikon-Sonate bezieht sich auf ein Buch von Andreas Okopenko, eines österreichisch-slowakischen Autor, der im Jahr 1968 den Lexikon-Roman geschrieben hat. Das Besondere an dem Buch ist, daß seine vielen hundert Kapitelchen in alphabetischer Reihenfolge sortiert sind wie in einem Lexikon. Genauso wie in einem Lexikon kann man sich über Querverweise durch die Struktur des Buches lesen. Dieses Buch ist ein "Hypertext" - so heißt der Spezialausdruck. Dies zu einer Zeit, als es diesen Begriff in der Theorie noch gar nicht gab.
Abb.2 : Stationen des Lexikon-Romans von Andreas Okopenko
© by Libraries of the Mind (1994)
Der Lexikon-Roman wurde vor einigen Jahren von der interdisziplinären Künstlergruppe "Libraries of the Mind" als elektronisches Buch umgesetzt. Okopenko selbst gehört auch dieser Gruppe an und hat den Wunsch geäußert, auch andere Medien zu integrieren. Also nicht nur seinen eigenen Text, sondern auch Fotos, Bilder und Musik. Als ich gefragt wurde, Musik dafür zu komponieren, ist mir nach Lektüre des Textes klar geworden, daß diese eine ähnliche Komplexität und Unendlichkeit besitzen müßte. Also konnte es meiner Ansicht nach nicht darum gehen, dem offenen, wuchernden Text Okopenkos ein geschlossenes Werk entgegenzusetzen. Ich wollte ein unendliches Labyrinth komponieren. Und da wurde mir klar, das ich etwas schaffen müßte, was sozusagen einen Komponisten simuliert, oder zumindest in gewisser Weise mein musikalisches Denken repräsentiert. So habe ich dann vor zwei Jahren begonnen, an dieser Sache zu arbeiten.
Was mich besonders an dem Prinzip des Lexikons interessiert ist: über die Querverweise gelangt man vom Hundertsten ins Tausende. Man kann sich regelrecht darin verlieren. Dazu ein Beispiel: Wir schlagen das Lexikon auf. Wir sind in Darmstadt, also ich lese über die Geschichte von Darmstadt, über den Jugendstil und die Mathildenhöhe. Bei diesem Stichwort finde ich den Hinweis, daß es dort eine Sonnenuhr gibt. Im Kapitel "Sonnenuhr" steht wieder einen Verweis auf Zeitmessung und Zeit, und von "Zeit" komme ich dann zu Norbert Elias. Sie sehen, wir haben nun eine "tour de force" von Darmstadt zu Norbert Elias gemacht. Plötzlich bin ich bei ihm angelangt, kann mich von dort aus weiterbewegen und habe Darmstadt schon längst vergessen. So funktioniert auch meine Musik, daß die einzelnen musikalischen Strukturen, die hier miteinander kommunizieren, einer Art Lexikon-Prinzip unterworfen sind. Es kommt immer etwas Neues dazu, das gewisse Beziehungen aufweist zu etwas Altem, und das Alte verschwindet langsam aus der Erinnerung. Doch bevor ich Ihnen über das Innenleben dieses Stückes erzähle, spiele ich Ihnen noch ein paar Takte vor.
Zuletzt möchte ich über den zweiten Aspekt sprechen. Das Klavierstück ist - wie bereits gesagt - nur die Spitze eines Eisberges, der sichtbare Teil. Jetzt möchte ich aber über das Unsichtbare sprechen.
Die der Lexikon-Sonate zugrunde liegende theoretische Hintergrundstruktur ist ein Software-Environment, das in der Sprache Max geschrieben wurde: eine Sammlung von Bibliotheksmodulen, die bestimmte musikalische Funktionen erfüllen. Diese "Real Time Composition Library" habe ich in den letzten beiden Jahren entwickelt; sie wird vom IRCAM vertrieben.
Abb. 3: Inhaltsverzeichnis der "Real Time Composition Library"
Mit Hilfe dieser Software-Bibliothek kann ich als Komponist unmittelbare Hörerfahrungen machen, indem ich kompositorische Strategien entwerfe und ein Modell davon implementiere. Ich kann nun sofort einen Höreindruck davon bekommen, was passiert, wenn ich einen bestimmten Parameter des Modells verändere.
Seit 1987 arbeite ich mit Computern als Mittel zur Strukturgenerierung. Früher mußte ich die symbolischen Resultate, die mir der Computer geliefert hat, zunächst einmal händisch transkribieren, interpretieren und am Klavier durchspielen, um zu einem akustischen Eindruck zu gelangen. Eine sehr mühsame Arbeit, wenn es nur darum geht, einen kompositorischen Strategie zu erfassen und sie auszuloten.
Frage: "Wo ist da der Unterschied zu einem Notationsprogramm?"
Ich kenne mich bei Notationsprogrammen nicht aus. Ich schreibe alles mit der Hand.
Frage: "Ich meine, sie haben so etwas entwickelt und Notationsprogramme gibt es schon sehr lange."
Es ist aber kein Notationsprogramm, es ist ein Kompositionsprogramm.
Frage: "Das, was ich meine, ist ein reines Sequencerprogramm, wo man mal am Klavier etwas einspielt."
Hier muß ich etwas erklären - ich weiß ungefähr, was Ihr Problem ist. Wenn ich "kompositorisches Hilfsmittel" sage, dann meine ich nicht, daß man sich etwas am Klavier zusammensucht; es ist vielmehr eine geistige Vorstellung.
Ich frage mich zu Beispiel: Was macht eine Melodie eigentlich expressiv? Ich versuche nun, das "Expressive" zu analysieren. Vielleicht gelingt es mir, es soweit zu erfassen, daß ein Computer das auch generieren kann? Das heißt, ich analysiere das Phänomen, mache eine Resynthese (die meine eigene Interpretation des Phänomens darstellt) und schaue, ob dabei auch wirklich etwas "Expressives" herauskommt.
Abb. 4: Kompositionsmodul ESPRIT
Das möchte ich Ihnen jetzt zeigen. Es gibt in der
Lexikon-Sonate ein Musikmodul, das sich ESPRIT
nennt und das
verkörpert, was geschichtlich aus dem "Espressivo" geworden ist. Ich
spiele ihnen jetzt ein paar Espressivo-Phrasen vor.
Das war nun ein Beispiel für eines der 24 Musik-Module, das unendlich viele Varianten seines Modells generieren kann.
KHE: Dies hier ist ein rein polyphones Harmonieprinzip. Es gibt keine vorgegebene Harmonie, die ausfiguriert wird. Das ist eine rein intervallisches von-Note-zu-Note schreiten, mit gewissen Verboten, was die Abfolge von Tönen oder Wiederholungen von gleichen Tönen anlangt.
Isabel Mundry: "Was hier als Modell bezeichnet wird, soll das etwas sein, das verbal beschreibbar ist und mit einer Bedeutung belegt ist, die sich der Hörer aus seiner geschichtlichen Kenntnis heraus denken soll? Oder soll es etwas sein, das nur mit rein musikalischen Mitteln beschreibbar ist? Zum Beispiel: "staccato". Beim Espressivo ist es fraglich, ob man sich auf bestimmte Modelle einigen könnte."
KHE: Es sind keine allgemeinen Modelle, sondern eher Arbeitsbegriffe. Das ist meine Vorstellung vom Espressivo, die in diesem Modell realisiert wird. Ich verallgemeinere überhaupt nichts und ich möchte auch nicht, daß man das als allgemeine Theorie akzeptiert.
Isabel Mundry: "Es soll aber der Leitfaden sein, an dem man Variations-Veränderungen erkennen sollte."
KHE: Ich denke schon, daß das funktioniert. Ich glaube, daß all die musikalischen Espressivo-Phrasen, die wir soeben gehört haben, zwar verschieden sind, aber doch auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Ich kann ihnen ein auch ganz anderes Modell vorspielen. Dann wird das vielleicht klarer.
Ulrich Mosch: "Die Verwendung des Wortes Espressivo erscheint mir auch ziemlich problematisch zu sein. Es gibt von Lachenmann ein schönes Diktum, wo er gesagt hat: 'Es nützt nichts, wenn ein Komponist an Espressivo denkt, sondern das Espressivo denkt an den Komponisten'. Es ist etwas, was im nachhinein im wesentlichen durch die Rezeption geleistet wird. Man kann das nicht voraus planen."
KHE: Mir geht es vielleicht mehr um die Spielanweisung "Espressivo" am Klavier: es gibt zwischen jedem Ton, zwischen jedem Rhythmus und jedem Dynamikwert eine Beziehung. Das heißt z.B. die Anschlagsstärke hängt von der vorhergehenden ab. So bilden sich im kleinen Crescendo/Decrescendo-Bögen, die größer und kleiner sein können, dazwischen können auch staccati oder Akzente eingestreut sein. Das gleich gilt aber auch im Rhythmischen. Es gibt kleingliedrige Beschleunigungen, Verlangsamungen, aber auch Ausbrüche. Das sind Aspekte, die ich für mich als Espressivo-Spielgesten begreife. Das Espressivo ist etwas zutiefst Menschliches, was wir am Klavier ohne vielen Nachdenkens sofort produzieren können. Der Witz dabei ist nun, daß dieses subjektive Prinzip jetzt abgezogen wird und wir es strukturell zu begreifen versuchen, damit das ein Computer, der von Musik überhaupt nichts versteht, simulieren kann.
Ulrich Mosch: "Darf ich da gleich mal einhaken? Du hast vom Computer gesprochen, der von Musik nichts versteht, andererseits sagst Du, daß er komponiert. Im Grunde ist es doch nicht verschieden von einem Stück in 'offener Form' aus den späten 50er Jahren, eine Disposition von verschiedenen Materialien. Du hast natürlich mehr Möglichkeiten. Du kannst im Detail Figuren, ganze Samples von Figuren vom Computer erstellen lassen. Das ist ein deutlicher Unterschied. Auf der anderen Seite ist es eine Art Spiel, wo Du die Regeln erfunden hast und dann der Computer auf Grund einer endlichen Anzahl von Regeln auswählt und nach dem Prinzip der Grammatik eine unendliche Anzahl von Versionen zu produzieren in der Lage ist."
KHE: Genau. Wichtig ist aber auch, daß bis zu 3 verschiedene solcher Musikmodelle (ich sage auch "Sprachen" dazu) parallel ablaufen und scheinbar miteinander zu kommunizieren beginnen. Aber nicht die Musik selber kommuniziert. In unserer Wahrnehmung verbinden wir zum Beispiel eine Espressivo-Phrase mit einer parallel und unabhängig dazu ablaufenden Akkordstruktur. Ich kann Ihnen einmal zeigen, wie das funktioniert. Ich lasse zunächstESPRIT
eine Zeitlang allein vor sich hinspielen und schicke dann noch etwas anderes dazu; dann schauen wir, was dabei passiert.Ich schicke jetzt Akkorde dazu. Die Akkorde wissen überhaupt nichts vom Espressivo. Sie haben ihre eigene Logik, ihre eigene harmonische Entwicklung. Ich arbeite hier mit Intervallkonstellationen, aus denen heraus Harmonien gebildet werden. In unserer Wahrnehmung beziehen wir nun das, was in der einen Schicht abläuft, auf eine andere, die quasi unabhängig davon ist.
Clemens Gadenstätter: "Meine Frage betrifft nicht nur Dich, sondern auch den Gerhard [Winkler]. Es geht um den Umgang mit dem Computer. Interaktive Systeme, so wie Ihr sie beschrieben habt, generieren Gleichzeitigkeiten, die sich beeinflussen. Die daraus entstehenden Qualitäten - bei Dir z.B. Espressivo-Qualitäten - können durchaus aus der Musikgeschichte bekannt sein. Erlaubt das Computerprogramm eine kompositorische Reaktion auf solche zufällig entstehenden Topoi?"
KHE: Das ist ein wichtiger Punkt, über den ich noch sprechen wollte. Ein weiterer Aspekt des Namens Lexikon-Sonate: ich wollte eine tour de force durch die Sujets der Klavierliteratur machen. Nicht aber in der Weise, daß ich Liszt, Mozart und Beethoven zitiere oder deren Modelle einsample und dann durcheinander würfle, sondern indem ich versuche, abstrakte Momente aus der Klavierliteratur herauszufiltern, die dann aus sich heraus Musik erzeugen können, die gelegentlich irgendwie an Beethoven erinnern mag oder vielleicht an Stockhausen und Boulez. Wie bereits gesagt, diese Bewertung findet im Prozeß des Hörens statt und ist nicht vom Computer oder dem Komponisten intendiert.Die Rahmenbedingungen, die ich mit meinem Regelwerk geschaffen habe, sind keine Ikonen. Sie bilden nichts ab. Es sie sind reine Prozeßbeschreibungen. Das Interessante und Spannende dabei ist, daß wir mit unserer Wahrnehmung, mit unserem individuellen Erfahrungshorizont und mit unserem musikalischen Wissen diese Dinge miteinander verbinden; dann entsteht in uns selbst - in unserm Kopf, in unserem Ohr - der musikgeschichtliche Rekurs.
Ulrich Mosch: "Ligeti hat einmal in Bezug auf Cage (der in manchem ja durchaus Beziehungen zu dem, was Du da machst, zu haben scheint) festgestellt: obwohl Cage sich bemüht, den Zusammenhang in jeder Beziehung zu zerstücken, hört man Form "malgré lui". Du spielst sozusagen mit der Wahrnehmung, mit den sedimentierten Erfahrung der Hörer, die sich natürlich darauf projizieren, was ihnen angeboten wird. Es stellt sich dann doch noch mal die Frage (mal ganz abgesehen vom anfänglichen Konzeptentwurf): ist das jetzt Komponieren, das sich tatsächlich in einer Tradition verstehen kann? Kann man diese Regelausführung durch den Computer nun tatsächlich noch mit dieser Kategorie benennen? Und zweitens: In wie weit kann man von einem Klavierstück reden? Ist es ein Stück oder ist es im Konzept zu einer Vielzahl von Möglichkeiten, die z.B. die Informationstheoretiker in den 60er Jahren in sehr simpler Weise aus Stücken Wahrscheinlichkeits-Folgen (Markovketten) extrahiert haben. Die waren eben auch in der Lage, auf Grund dieser Wahrscheinlichkeitsketten eine Vielzahl von Beispielen zu reproduzieren, die alle eine Verwandtschaft mit dem Originalstück haben. Ich sehe da ein Grundproblem."
KHE: Ich weiß, daß diesem Konzept mit den herkömmlichen ästhetischen Kategorien nicht beizukommen ist. Ich spreche deshalb auch lieber von "Realtime Composition", weil ich denke, daß ein kompositorischer Akt (im emphatischen Sinne) immer auch ein geistiger Akt, ein Denkakt, eine Reflexion ist. Ich komponiere auch nicht ausschließlich Lexikon-Sonaten, sondern - wie Sie gestern gehört haben - auch ganz "normale" Stücke, mit Intention. Für mich ist die Arbeit an der Lexikon-Sonate als geistiger Ausgleich wichtig neben Kompositionen, die ich bis ins kleinste Detail ausarbeite und in- und auswendig kenne. Da freue ich mich natürlich, wenn ich ein Stück höre, das zwar von mir initiiert wurde, aber das ich trotzdem noch nie gehört habe. Und ich gestehe, daß ich mir die Lexikon-Sonate sehr gern und sehr oft anhöre. Ich bin immer überrascht, was sie mir heute zu sagen hat. Aber es ist anders als beim I Ging, das kennt nur 64 verschiedene Möglichkeiten, wenngleich diese auch ganz unterschiedlich interpretiert werden können. Die Lexikon-Sonate bietet immer etwas völlig Neues. Manchmal nervt sie mich auch total. "Verweile doch, du bist so schön" - das gibt es hier nicht. Musik ist etwas Flüchtiges und soll auch so bleiben.
[2] Die Uraufführung fand am 10.2.1994 als Live-Sendung im Rahmen der von Heidi Grundmann gestalteten Sendereihe Kunstradio - Radiokunst (Ö1) im Großen Sendesaal des Österreichischen Rundfunks in Wien statt. Die nicht im Konzertsaal anwesenden Hörer, die das Geschehen von ihren Radioapparaten aus verfolgten, hatten die Möglichkeit, durch Wählen einer bestimmten Telefonnummer das kompositorische Verhalten des Computerprogramms zu beeinflußen.
[3] Stereo Piano Module "Proformance /1" von E-MU Systems, Inc.
[4] Andreas Okopenko, Lexikon-Roman einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (Residenz: Salzburg 1970; Ullstein: Frankfurt et. al. 1983). Beide Ausgaben sind mittlerweile vergriffen.
[5] Diese Begriff wurde von Ted Nelson Anfang der 70er Jahre geprägt.
[6] Max ist eine graphische objekt-orientierte Entwicklungsumgebung für Multimedia und Echtzeitanwendungen und wurde von Miller Puckett und David Zicarelli seit 1987 am IRCAM (Paris) entwickelt.
[7] Bezugnehmend auf das vorangegangene Referat von Gerhard Winkler.
[8] cf. György Ligeti, [Form]; in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. von Ernst Thomas, Bd. X "Form in der Neuen Musik" (Mainz 1966), S. 28
[9] Entsagung (1991-93) für Flöte, Baßklarinette, präpariertes Klavier, Schlagzeug und interaktives Klang-Environment (Kompositionsauftrag des IRCAM, Paris) wurde am 27.6.1994 vom Ensemble Klangforum Wien unter der Leitung von Gerhard Kühr in der Darmstädter Orangerie gespielt.
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Updated: 10 Feb 2023