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Clemens Hausmann

Kunstrezeption und ästhetischer Gegenstand.
Vierter Teil: Anwendung und Diskussion des Modells:
Andreas Okopenko, Lexikon-Roman / Karlheinz Essl, Lexikon-Sonate


Eine multimendiale "Übersetzung" erfuhr Okopenkos Werk [Lexikon-Roman] Anfang der 90er-Jahre durch die interdisziplinäre Künstlergruppe Libraries of the Mind, die es zu einem elektronischen Buch machte. Die CD-ROM enthält neben dem vollständigen Text auch Fotos, Grafiken und Musik. Besonders interessant ist der Beitrag des Komponisten Karlheinz Essl, der für das Projekt ein eigenständiges Kunstwerk beisteuerte, die Lexikon-Sonate (1992 ff.) für Computerklavier.


Esprit Joyce Gruppen Scala Fermata Ricochet Clouds MeloChord BrownChords Dependance Orgelpunkt SoloPlay Arpeggio Figuren Triller Glissando Generalpause RePlay User-Interface der Lexikon-Sonate

Benutzeroberfläche der Lexikon-Sonate
vs. 3.2 (11 Jan 2007)

Clickable Map: Mit einem Doppelklick auf eines der Kästchen (z.B. "Esprit")
erhält man weitere Informationen über dieses Strukturgenerator und außerdem noch ein Hörbeispiel.


Diese Sonate besteht aus einem verschachteltem Computerprogramm, in dem 24 Musik-Module in verschiedenen Kombinationen einen Computerflügel steuern, der die Musik zum Klingen bringt. Jedes der Module "erfüllt bestimmte musikalische Funktionen" (Essl 1994, S. 6), z.B. Triller, Clouds, Glissando etc. Die Sonate beginnt mit der Aktivierung eines Moduls, dann kommt ein zweites und drittes hinzu, die jeweils gleichzeitig den Computerflügel steuern, d.h. zugleich erklingen. Wenn ein viertes Modul aktiviert wird, setzt das erste aus. Es sind also immer nur drei zu hören.


chain 1 chain 2 chain 3 chain 4


Der Hörer hat nun die Möglichkeit, die Reihenfolge der Module selbst zu steuern: am Bildschirm durch Anklicken der Module, aber auch bei Aufführung vor großem Publikum oder Radio durch verschiedene Formen der Interaktion [1]. Die ästhetische Rezeption des interagierenden Hörers weist dabei zugleich die gleichen Charakteristika auf wie die des Romanlesers. Der anfängliche Orientierungsmangel ("Was ist das? Was soll ich tun?") kann aufgehoben weden durch Explorationsverhalten (Ausprobieren der Möglichkeiten des Programms und damit der von Essl festgelegten musikalischen Strukturen); Wahrnehmung und Ergänzungen (z.B. Zusatzinformationen über die Absichten des Komponisten) fügen sich zum organisierten und semantisch strukturierten ästhetischen Gegenstand Lexikon-Sonate; bewertet wird sowohl der Verlauf (die Abfolge und das Zusammenspiel der Musikmodule) als auch die Sonate als solche.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Ende der Rezeption. Da die Sonate, einmal via Computer in Gang gesetzt, potientiell unendlich ist, obliegt es dem Hörer zu entscheiden, wann er sie ausreichend rezipiert hat. Sofern er die Töne ästhetisch rezipiert (als Sonate) wird er bemüht sein, einen sinnvollen ästhetischen Gegenstand zu generieren. Die Zeit, die er dazu braucht, ist zugleich die Zeit, in der die Sonate erklingt (hat er sie "fertigrezipiert", kann er den Computer abschalten).

Wiederum also spiegeln sich die Aspekte der Rezeption im ästhetischen Objekt und sind zugleich Funktionen des Werks und seiner Wirkung. "Die Lexikon-Sonate [entsteht] nicht aufgrund fester Bestandteile, sondern im HÖREN (...). So 'besteht sie (...) aus dem, woraus sie gemacht wurde: Höreindrücke werden mittels Analyse und Resynthese hörbar gemacht" (Günther 1995, S. 2).

Essl stellt seine künstlerische Arbeit in den theoretischen Kontext des Radikalen Konstruktivismus (Foerster 1985, Glasersfeld 1991), der Wahrnehmung nicht als Abbild ontologischer Wirklichkeiten auffaßt, sondern als kognitive Konstruktion. Essl leitet aus der darin enthaltenen "Relativität des eigenen Erkennens" direkte kompositorische Konsequenzen ab: Anstatt dem Rezipienten "eine message vorzusetzen, die er um jeden Preis erfassen muß (...), soll das Kunstwerk selbst dermaßen offen gestaltet sein, daß kognitive Interaktionen sinnvoll möglich sind. Der Rezipient tritt damit aus seiner gesellschaftlich verordneten Passivität und wird zum Mitschöpfer" (Essl 1992, S. 2). Damit formuliert er ästhetische Prinzipien ganz ähnlich denen Okopenkos. Die Lexikon-Sonate ist keine bloße oberflächliche "Vertonung" des Romans (im Sinne von Stimmungsstudien und Programmmusik), sondern eine radikale musikalische Umsetzung auf der Basis einer vergleichbaren ästhetischen Struktur. Die ästhetischen Gegenstände, die aufgrund der beiden Werke, Roman und Sonate, gebildet werden können, sind deshalb durchaus miteinander vergleichbar.


© 1995 by Dr. Clemens Hausmann


in: Clemens Hausmann, Kunstrezeption und ästhetischer Gegenstand. - Vierter Teil: Anwendung und Diskussion des Modells: Andreas Okopenko, Lexikon-Roman / Karlheinz Essl, Lexikon-Sonate (phil. Diss., msch., Salzburg 1995), S. 113 - 120.



Anmerkungen

[1] So konnten die Hörer etwa bei der Uraufführung der Lexikon-Sonate im Radio (1994) das kompositorische Verhalten des Computerprogrammes durch Wählen einer bestimmten Telefonnummer beeinflussen.


Literatur

Essl 1994: Karlheinz Essl, Lexikon-Sonate. Darmstadt-Lecture 1994.

Günther 1995: Bernhard Günther, Irreal-Enzyklopädie einer metaphorischen Reise zur Lexikon-Sonate von Karlheinz Essl; Ms.

Foerster 1985: Das Konstruieren einer Wirklichkeit; in: Die erfundene Wirklichkeit. Beiträge zum Konstruktivismus, hrsg. von P. Watzlawick (München 1985).

Glasersfeld 1991: Ernst v. Glaserfeld, Abschied von der Objektivität; in: Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz v. Foerster, hrsg. von P. Watzlawick und P. Krieg (München 1991).

Essl 1992: Kompositorische Konsequenzen des Radikalen Konstruktivismus; in: Positionen, Bd. 11 "Mind Behind" (Berlin 1992).



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Updated: 11 Jan 2007

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