Es fällt mir aus verschiedenen Gründen schwer, meine Erwartungen an ein "ideales" Printmedium für zeitgenössische Musik zu präzisieren, wie es von den Veranstaltern dieses Symposions angeregt wurde. Zum einen, weil ich als seinerzeitiger Redakteur der Zeitschrift ton mit der Trägheit des Produktions- und Vertriebsapparates schwer zu kämpfen hatte. Zum anderen, weil die Fülle der im deutschen Sprachraum existierenden, zum Teil hervorragenden Magazine in mir keineswegs den Wunsch nach einem neuen Blatt hervorruft. Es wäre dann doch nur wieder ein Printmedium, und von dessen Eigenheiten geprägt.
Dennoch möchte ich den Versuch unternehmen, meine persönliche Vorstellung einer imaginären Musikpostille in aller Knappheit darzustellen. Deren Formulierung mag vielleicht insofern utopischen Charakter besitzen, als sie noch nicht in der Praxis umgesetzt wurde - realisieren aber ließe sie sich, wie später zu zeigen ist, allemal - und das ohne allzu großen Aufwand.
Aspekte
Was mir also vorschwebt, ist weniger eine Zeitschrift, als ein - nennen wir es:
"Forum für Neue Musik". Ein Periodikum,
1) das sich unter weitgehender Beteiligung seiner
Leser dynamisch und wuchernd - quasi autopoiëtisch - entwickelt,
2) das keine Sammlung sequentieller Texte
darstellt, sondern ein Netzwerk aus Hypertexten,
4) und das schließlich der Forderung nach
Multimedialität Rechnung trägt.
ad 1) Autopoiëse
Herkömmliche Printmedien basieren auf der
grundsätzlichen Trennung von Sender und Empfänger, von
Redaktion und Leserschaft. Um diese Kluft zu überbrücken, hat
sich die Spalte "Leserbrief" eingebürgert, in der die Meinung
eines Rezipienten in der Regel erst dann veröffentlicht wird, wenn
die aktuelle Diskussion schon abgeebbt ist. In den heute etwa 4 - 12
mal jährlich erscheinenden Musikzeitschriften beträgt die
zeitliche Differenz normalerweise Monate, und selbst in Tageszeitungen
bis zu einer Woche und mehr. Mit dieser Zeitverzögerung
läßt sich auf Dauer kein kontinuierlicher Diskurs aufrecht
erhalten.
Was mir jedoch vorschwebt, wäre ein Medium, dessen
Inhalte nicht allein von einer Redaktion bestimmt werden, sondern auch
von der nicht minder kompetenten Leserschaft. So könnte ein
(Groß-)Teil der Ausgabe aus Beiträgen von Lesern stammen.
Ein im wissenschaftlichen Bereich durchaus üblicher "call for
papers" wäre hier sinngemäß zu adaptieren. Zu
diskutieren wäre allenfalls der Modus der Selektion.
Parallel zum redaktionellen Teil wäre darüber hinaus ein
ständiges Diskussionsforum einzurichten, das die Möglichkeit
des nicht gegängelten öffentlichen Diskurses böte: eine
permanente Kommentarschiene "online". Ein parallel zum "Forum"
geführter autonomer Bereich, der sein eigenes Wucherleben
führt und aus dem heraus sich Beiträge einer Folge-Nummer
ableiten ließen.
Eine von Musikern und Komponisten getragene
Auseinandersetzung der einander oft kraß widersprechenden
ästhetischen Positionen und künstlerischen Ansätzen
erscheint mir heute - im Zeichen des postmodernen Pluralismus -
notwendiger denn je. Anstatt aber die verschiedensten Meinungen als
beliebige Versatzstücke kritiklos nebeneinander zu
präsentieren (wie es heute gerne geschieht - nicht nur in den
Printmedien), könnte aus einem öffentlich geführtem
Austrag der Gegensätze ein kreatives Spannungspotential
freigesetzt werden. Wichtig erscheint mir aber auch, daß diese
Auseinandersetzung nicht allein vom professionellen Feuilleton
vollzogen wird, sondern vor allem unter Beteiligung der Künstler
stattfindet.
ad 2) Hypertextualität
Anstelle der sonst gebräuchlichen Aneinanderreihung sequentieller Texte, die allenfalls über Fußnoten und Querverweise miteinander kommunizieren, käme hier die Struktur eines Hypertextes - eines selbstreferentiellen Netzwerkes verknüpfter Texte - zum Tragen.
ad 3) Internationalität
Das "Forum" wäre international und an keine bestimmtes Land gebunden. Als Verkehrssprache böte sich englisch an, wenngleich aber Mehrsprachigkeit durchaus vorstellbar und wünschenswert erscheint.
ad 4) Multi/Hyper/Inter-Medialität
Neben der sonst üblichen graphischen Aufbereitung von Texten sollten in meinem imaginären "Musikforum" vor allem auch Klangbeispiele enthalten sein.
Diskussion
Soweit die Utopie. Erlauben Sie mir bitte, daß ich nun etwas näher auf die vier genannten Aspekte eingehe, ehe ich mich an ein Lösungsvorschlag wage:
ad 1)
Die Forderung nach raschem, unmittelbarem und öffentlichem Meinungsaustausch läßt sich naturgemäß in einem Printmedium nicht realisieren. Die ihm innewohnende Trägheit (bedingt durch die Trennung von Konzeption, Produktion, Druck und Vertrieb) erschwert einerseits die unmittelbare Beteiligung der Leserschaft und behindert andrerseits auch einen spontanen und wuchernden Diskurs.
ad 2)
Zudem läßt sich Hypertextualität in einem Printmedium nur sehr eingeschränkt realisieren - als bedeutsamer literarischer Versuch in diese Richtung gilt der Lexikon-Roman von Andreas Okopenko. Seit der Definition des Terminus' "Hypertext" durch Ted Nelson als "nonsequential writing" ist an elektronischen Implementierungen dieses Ansatzes gearbeitet worden, die heute allgemein verfügbar sind.
ad 3)
Auch der Wunsch nach Internationalität läßt sich in einem Printmedium nicht so ohne weiteres verwirklichen. In der Regel wird das Land, in dem die Zeitschrift erscheint, eine gewisse Rolle spielen. Es müßte demnach ein Redaktionssitz gefunden werden, der geographisch nicht an einem bestimmten Punkt der Erde festzumachen ist.
ad 4)
Die Intermedialität - die Verbindung verschiedener Medien - läßt sich in Druckwerken ebenfalls nur eingeschränkt erzielen und wird in der Regel alle nicht-visuellen Formen (wie etwa Klänge) ausklammern müssen.
Lösungskonzept
Nicht zuletzt Dank der breiten Verfügbarkeit von Computernetzen konnte sich innerhalb der letzten zwei Jahren ein weltweiter Standard etablieren, der als Trägermedium für das eben skizzierte "Musik-Forum" in Frage kommt: ich spreche hier vom World-Wide Web, das im weltumspannenden Internet eine rasante Entwicklung durchmacht. Es handelt sich dabei um eine universelle und globale Datenbank, die den unmittelbaren Zugriff auf örtlich weit auseinanderliegende Informationen ermöglicht, ohne das dem Benutzer dabei fundierte Computerkenntnisse abverlangt würden. Das World-Wide Web integriert die verschiedenen Internet-Dienste (email, news, ftp, gopher, telnet etc.) unter einer gemeinsamen, intuitiv zu bedienenden Benutzeroberfläche, die außerdem auf allen gängigen Computersystemen läuft.
Die multimediale Ausrichtung des World-Wide Web erlaubt die Verknüpfung von Texten, Graphiken, Photos und Klängen, wodurch beispielsweise klingende Musikbeispiele abgerufen werden können. Die darin zum Prinzip erhobene Hypertextualtität schließlich könnte zu einer neuen Art des vernetzten Schreibens (und Lesens) führen. Mittels Querverweisen (sog. links) ließen sich nicht nur keywords innerhalb einer "Forums"-Ausgabe aufrufen, sondern auch externe, irgendwo auf dem Globus befindliche Informationsquellen wie Spezialpublikationen (3), Software-Datenbanken (4), Musikarchive (5), Veranstaltungskalender (6), Komponisten- (7) und Verlagspräsentationen (sog. homepages), Musikinformationszentren (8), Forschungsinstitute (9), elektronische Studios (10), Veranstalter (11), Komponisten-Projekte (12) etc. Damit würde das "Forum" über seinen Horizont hinausweisen und dabei den eigenen Rahmen sprengen - es wäre nicht länger bloß nur eine etwas andere Musikzeitschrift, sondern ein Informationsknoten innerhalb eines offenen, globalen Netzwerkes.
Anmerkungen
(1) Andreas Okopenko, Lexikon-Roman einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen nach Druden (Salzburg 1970). - Die elektronische Umsetzung als interaktive CD-ROM (mit Photos von Christa Kempinger, Graphiken von Alfgard Kircher und der Lexikon-Sonate von Karlheinz Essl) wurde 1991-95 von der interdisziplinären Künstlergruppe "Libraries of the Mind" durchgeführt.
(2) Theodor Holm Nelson, Literary Machines (Swarthmore/PA, self-published, 1970)
Vortrag, gehalten am 11.04.1995 beim Symposion Printmedien und Musikjournalismus in Saalfelden/Salzburg.
Erschienen in: Jazz, Neue Musik und Medien. Dokumentation Saalfeldner Musiktage, hrsg. von Gerhard Eder, Wolfgang Gratzer und Alfred Smudits (Saalfelden 1996) - ISBN: 3-901 690-001-8