Auftragswerk des ORF Kunstradios
Erläuterung der formalen Architektur
aus: Karlheinz Essl, Lecture SPRACH/KOMPOSITION
Universität für angewandte Kunst Wien
Institut für Sprachkunst (27.3.2015)
Die radiophone Fassung, die am 2. November 2014 erstmals im Kunstradio gesendet wurde, erweitert die ursprünglich Komposition in Form eines Triptychons: Das zentrale Mittel Herbeck Versprechen wird von zwei "Seitentafeln" eingerahmt – Herbeck Besprechen und Herbeck Befragen. Diese wiederum sind durch zwei "Scharniere" - Herbeck Kommentar und einem Interview Making of Herbeck mit dem Hauptstück verbunden. Daraus ergibt sich folgender Ablauf:
"Ernst Herbeck wurde 1920 mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte in Stockerau geboren und litt lebenslang unter einer Sprechbehinderung, die auch durch mehrmalige Operationen nicht behoben werden konnte. Als Einzelgänger, der sich gerne auf seinem Boot und in der Natur aufhielt, fühlte er sich seit seinem zwanzigsten Lebensjahr von fremden Stimmen verfolgt, was zu seiner ersten Einweisung in die Psychiatrie führte. Eine Mädchenstimme habe ihm in Form von Morsezeichen immerfort Gedanken aufgezwungen; auch der Vater - ein Beamter - habe ihm die Nerven mit seinem scharfen Denken zersetzt. Im September 1944 war er, obwohl selbst am Rande eines Zusammenbruchs, zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden. Kurz vor Kriegsende wurde er als untauglich entlassen und in die Nervenheilanstalt Gugging eingewiesen. Bis auf eine kurze Unterbrechung verbrachte er sein ganzes Leben bis zu seinem Tod 1991 dort."
Was zunächst wie ein herkömmliches Literaturfeature beginnt entwickelt sich aber schon bald zu einem bedrohlichen Szenario, in dem die Stimmen, die Ernst Herbeck Zeit seines Lebens verfolgt haben, die Oberhand gewinnen. Dieses Sprachgewirr verdichtet sich allmählich zu einem Chor aus Computerstimmen, der das Lied "Muttersprache - Mutterklang" intoniert: Eine Melodie, die Ernst Herbeck selbst zu singen versucht hat, als er kurzfristig in einem Altersheim untergebracht war - nachzuhören in Heinz Bütlers Dokumentarfilm "Zur Besserung der Person" (1980).
Ernst Herbeck im Altersheim beim Singen des Liedes Muttersprache - Mutterlaut
Filmkader aus Heinz Bütlers Dokumentarfilm Zur Besserung der Person (1980)
"Während meiner Schulzeit hatte ich mir 1979 ein Buch gekauft, das mich nachhaltig beeindruckte: Alexanders poetische Texte, herausgegeben von Leo Navratil, dem damaligen Primararzt des psychiatrischen Krankenhauses in Gugging. Die dort veröffentlichten Gedichte eines Schizophreniepatienten (dessen Anonymität später auf eigenem Wunsch aufgehoben wurde), haben auch heute nichts von ihrer rätselhaften Wirkung eingebüßt: lyrische Psychogramme einer sensiblen Seele, die zwar schreiben, sich aber aufgrund einer Behinderung sprachlich kaum artikulieren konnte. Es ist bemerkenswert, dass diese Gedichte nicht aus freiem Antrieb, sondern in gehorsamer Pflichterfüllung gegenüber seinem verehrten (und gefürchteten) Arzt entstanden sind, also zunächst aus rein therapeutischen Gründen.""Ernst Herbeck - so sein richtiger Name - habe ich zu einer Zeit gelesen, als ich mich mit den Sprachexperimenten der Wiener Gruppe beschäftigte und in mir der Wunsch reifte, selber Künstler zu werden. Dass ich später Komponist werden sollte, war damals noch nicht abzusehen. Stattdessen spielte ich in einer Rockband und veranstaltete mit Gleichgesinnten sog. klapperatistische Aktionen. Herbecks Gedichte waren damals unser Vademecum, neben Texten der Dadaisten und E.T.A. Hoffmanns."
"Ende 2013 erhielt ich von Johann Feilacher, dem Nachfolger Leo Navratils und Betreuer der Gugginger Künstlerkolonie, eine Tonbandkassetten mit Aufnahmen, die er in den achtziger Jahren von Ernst Herbeck gemacht hatte. Sie enthält eine Vielzahl seiner Gedichte in bescheidener, aber durchaus brauchbarer Klangqualität. Dennoch war ich schockiert, als ich nun zum ersten Mal die Stimme des verehrten Dichters hörte: Unter größten Anstrengungen presste Herbeck seine wunderbaren Gedichte hervor, die ich jedoch bei bestem Willen nicht verstand. Wegen seines Wolfrachens konnte er sich sprachlich kaum artikulieren und stieß nur inbrünstiges Stöhnen und Stammeln hervor."
"Gleichwohl hat mich der Klang dieser gebrochenen Stimme in ihren Bann gezogen. Eine Aufnahme des Gedichtes Das Leben diente mir als Ausgangsmaterial für eine Reihe von kompositorischen Experimenten. "Das Leben ist schön", heißt es dort immer wieder - als wolle einer, dessen Leben alles andere als schön gewesen sein muss, die ersehnte Schönheit verzweifelt heraufbeschwören. Und so wird dieses kurze Gedicht auch in meiner Komposition immer weiter wiederholt und gleichzeitig immer mehr transformiert, so dass es sich zuletzt in wundersame Klangkaskaden auflöst."
Im Hintergrund wird allmählich Herbecks Gedicht Das Leben erahnbar, das im dritten Abschnitt im Zentrum steht.
Ernst Herbeck schreibt ein Gedicht unter den Augen seines Psychiaters Leo Navratil
Filmkader aus Heinz Bütlers Dokumentarfilm Zur Besserung der Person (1980)
Herbecks Versprechen
World premier, performed by Karlheinz Essl
Vienna, Novomatic Forum, 10 Mar 2014
Karlheinz Essl im Gespräch mit Anna Soucek
Radiokulturhaus Wien, 2. November 2014
Erläuterung des Abschnitts "Making of..."
aus: Karlheinz Essl, Lecture SPRACH/KOMPOSITION
Universität für angewandte Kunst Wien
Institut für Sprachkunst (27.3.2015)
Name: Ernst Herbeck
Beruf: Schriftsteller
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Erläuterung des Abschnitts "Herbeck Befragen"
aus: Karlheinz Essl, Lecture SPRACH/KOMPOSITION
Universität für angewandte Kunst Wien
Institut für Sprachkunst (27.3.2015)
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Updated: 30 Jan 2023