Karlheinz Essl
Unser erstes Zusammentreffen findet am 14. März 2007 in der Rotunde des Essl Museums statt. Jonathan Meese will diesen Raum als zentralen Ausgangspunkt für seine Installation FRÄULEIN ATLANTIS nutzen – als unterirdische vulkanische Kraftkammer, deren Energien sich unkontrolliert und unvorsehbar nach oben in den Großen Saal entladen. Dies soll über das Medium des Klanges erreicht werden. Erzeugt wird dieser von einer monströsen Maschine, die aus der Rotunde in die Höhe aufragt.
Jonathan Meese & Karlheinz Essl beim Aufbau der Installation FRÄULEIN ATLANTIS
Am 18. Juni 2007 findet ein erneutes Treffen statt, diesmal in meinem Studio: Ich möchte einzig und allein Jonathans Stimme, die er in seinen Performances so virtuos einzusetzen versteht, als Ausgangsmaterial meines Klangenvironments benutzen – und sie dafür aufnehmen. Dafür habe ich mir einen Plan zurechtgelegt und bestimmte Aufgaben vorbereitet, die Meese mit seiner Stimme umsetzen soll. Dann erscheint Jonathan, der soeben einen anstrengenden Pressetermin absolviert hat. Noch erhitzt von den Interviews stürzt er sich in die nächste Schlacht. Zum Aufwärmen lasse ich ihn mit seiner Stimme improvisieren – und werde Zeuge einer aberwitzigen Vokalperformance, die alle Höhen und Tiefen menschlicher Äußerungen umfasst. Wie ein Kind brabbelt und plappert er los, mit ständigen Wiederholungen, offensichtlich ohne rationale Kontrolle. Völlig ungeschützt gibt er sich seinem Zungenreden hin, das sich immer mehr verdichtet und schließlich aus den Fugen gerät. Dann bitte ich Jonathan, Tierlaute und Maschinengeräusche zu imitieren, was er bravourös meistert. Zuletzt kommt die schwierigste Aufgabe: die Darstellung eines Vulkanausbruchs. Zunächst zögert er noch. Dann beginnt er mit dem Blubbern der Lava und dem Fauchen der Esse. Langsam bringt er sich in Fahrt und endet in einen fulminanten Stimm-Ausbruch, der ihn an den Rand der Erschöpfung bringt. |
© 2007 by Karlheinz Essl |
Klangmaschine
In den nächsten Wochen beschäftige ich mich intensiv mit diesen Vokalaufnahmen und höre sie immer wieder durch. Ich zerteile sie in Klangschnipsel und ordne diese nach syntaktischen Kriterien, indem ich eine Klangtypologie des Meese’schen Sprachkosmos’ entwerfe. Parallel dazu entsteht ein Computerprogramm für die Maschine in der Rotunde, das – unvorhersehbar wie ein Vulkan – hochenergetische Klangmassen herausschleudern wird. Obwohl einzig und allein Jonathans Stimme als Ausgangsmaterial dient, soll sie hier aber nicht erkennbar, sondern allemal in Anklängen spürbar sein. Dies erreiche ich durch starke Transformation des Ausgangsmaterials, das durch generative Kompositionsalgorithmen dekonstruiert und in Echtzeit zu neuen Klanggebilden zusammengesetzt wird. Dabei wird der natürliche Zeitfluss und die ursprüngliche Tonhöhe radikal deformiert. Als Resultat erklingt nun eine subtil geschichtete Klanglava, die sich permanent verdichtet, ehe sie sich schließlich eruptiv entlädt. Ausschnitt aus dem Sound-Environment Fräulein Atlantis
Die Aufnahmsession hat der Berliner Fotograf und Dokumentarfilmer Jan Bauer auf Video festgehalten, ebenso wie das anschließende Gespräch zwischen Meese und meinem Vater, das ein Katalogbeitrag werden soll. Im Laufe dieses Gesprächs stellt sich die Frage nach der Variabilität der Installation. Gibt es darin mobile Aspekte? Meese verneint und meint, dass der Klang sich ja ohnehin ständig verändert und dadurch die Installation immer anders erlebt wird. Mein Vater lässt nicht locker: Aber im Visuellen, bleibt da alles statisch? Könnte man nicht mit Video arbeiten und damit dynamische Bildinhalte erzeugen? Diese Anregung greife ich auf. Da ich mich seit einigen Jahren mit der Übertragung generativer Kompositionsalgorithmen auf visuelles Ausgangsmaterial beschäftige, habe ich bereits eine Vorstellung, wie die Videoebene ebenso unvorhersehbar und überraschend gestaltet werden könnte wie die klangerzeugende Maschine in der Rotunde. Das Videomaterial, das während Meeses Besuchen im Essl Museum entstanden ist, ist von exzellenter Qualität. Jan Bauer hat den Künstler außerdem noch bei zwei Privatperformances ohne Publikum im Depot der Sammlung gefilmt, mit bewegter Kamera und starker Bilddynamik: wunderbares Ausgangsmaterial voller abstruser Narrativität, bestens geeignet für tiefgreifende Manipulationen. Mitte der 1990er Jahre hatte ich begonnen, mit Video-Footage zu experimentieren. Was geschieht, wenn der durch das Material vorgegebene Zeitablauf außer Kraft gesetzt wird, indem man – wie bei einem Tonband oder einer Schallplatte – einen Filmstreifen „scratcht“? Technologisch gesprochen handelt es sich dabei um einen random walk auf der Zeitachse: eine Videosequenz wird in verschiedenen Geschwindigkeiten ausgelesen, wobei die Leserichtung ständig wechselt. Mit Hilfe von zeitvarianten und zufallsgesteuerten Computeralgorithmen, die ich in der Echtzeit-Programmiersprache Jitter implementiert habe, lässt sich aus einem zeitlich begrenzten Videosample ein unendlicher Bilderstrom erzeugen: Ein starres und reproduzierbares Objekt wird so in einen fluiden und nicht wiederholbaren Prozess übergeführt. Eine weitere Manipulationsebene stellt die zweidimensionale Ausdehnung eines Videoframes dar. Auch hier wollte ich die starre räumliche Dimension auflösen. Anschaulich gesprochen befindet sich die Bildinformation nicht auf einem starren Träger, sondern ist quasi auf eine flexible Folie aufgebracht, die in beide Raumachsen gedehnt und gestaucht werden kann. Diese in wechselnden Geschwindigkeiten ablaufenden Deformationsprozesse werden wiederum mittels Algorithmen in Echtzeit erzeugt. In meiner Videoinstallation MeeseMixer für FRÄULEIN ATLANTIS werden jeweils zwei zufällig ausgewählte Videosequenzen unabhängig voneinander „verflüssigt“ – durch Manipulation der Zeitebene und der räumlichen Ausdehnung. Anschließend werden sie miteinander vermischt, wobei sich das Mischungsverhältnis aleatorisch über die Zeit verändert. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine simple Überblendung, sondern um ein Verfahren namens„chroma keying“. Hier wird eine Farbe (zum Beispiel Weiß) als „Fenster“ definiert, in dem das jeweils andere Video sichtbar wird. Damit entstehen merkwürdige Formen der Hybridisierung, die an alchemistische Prozesse denken lassen. Der daraus entstehende Bilderstrom wird zuletzt noch hinsichtlich seines Farbraumes verändert, indem Bildparameter wie Helligkeit, Kontrast, Sättigung und Farbtemperatur mittels zeitvarianter Zufallsoperationen permanent verändert werden. Dieser vielschichtige Algorithmus generiert aus einer begrenzten Anzahl kurzer Filmsequenzen (die Jonathan Meese im Zusammenhang mit der Ausstellung zeigen) einen nicht enden wollenden Bilderstrom, der sich unvorhersehbar wie ein Naturprozess entfaltet und sich niemals wiederholt. Damit wird auch die Forderung des Künstlers nach der autonomen und ungezügelten Entfaltung der Kunst, ohne subjektive Kontrolle, eingelöst: Das Computerprogramm Meese-Mixer wird somit zur Abschussrampe, die das Raumschiff KUNST in den Weltenraum katapultiert.
Im Großen Saal des Essl Museums wird - so Meese - „der Boden rattenscharf klargemacht“. Verstreute Holzhütten erzeugen den Eindruck einer verlassenen Goldgräberstadt, dazwischen befinden sich Skulpturen und an den Wänden großformatige Ölgemälde von Jonathan Meese. Die Rotunde wird zu einem Vulkankrater umfunktioniert, aus dem eine monströse Maschine von Zeit zu Zeit mächtige Klangergüsse freisetzt. In einigen der Hütten sind Plasmabildschirme wie Fenster eingelassen, auf denen das oben beschriebene Video zu sehen ist. Auf den Firstdächern sind Trichterlautsprecher montiert, aus denen Meeses Stimme zu vernehmen ist: meist als abstrakter Sound, gelegentlich aber auch als Zitat und Appell. Die Hütten sind durch Oberleitungen miteinander vernetzt, durch die Bild- und Tonsignale geschickt werden. Diese laufen in der Maschine zusammen, die das energetische Herzstück der gesamten Installation darstellt. |
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Updated: 7 Jan 2018