Portrait

Elisa Holz

Digitale Dialektik

Musik und ihre Genese ist ein Spiegel gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen.
Im digitalen Zeitalter kann Musik im Spannungsfeld zwischen Flüchtigkeit und Ewigkeit
in der Kunst und auch im Alltag neu gedacht, erfahren und erlebt werden.

2011


Was ist digitale Musik? Eine Musik, die nach dem binären Code von 0 und 1 operiert, sich aber genauso anhört wie wir es gewohnt sind? Oder verändern die Töne als Daten unser Verständnis von Musik, sogar unsere Wahrnehmung insgesamt? Nach dem Musiker und Musikwissenschaftler Werner Jauk wird in der digitalen Kultur das Auditive graduell die alten visuellen Wahrnehmungsmuster ablösen. Der Komponist, Musiker, Instrumentenbauer und Musiktheoretiker Karlheinz Essl sieht gerade auf Seiten der Musikschaffenden trotz neuer Technologien und Medien bislang nur wenige Ansätze, Musik neu zu denken. Für ihn ist es wichtig, dass Musik ein sinnliches, ein soziales und ein kommunikatives Erlebnis bleibt.


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1992 entwickelte der bekannte österreichische Komponist und Musiker Karlheinz Essl seine Lexikon-Sonate. Generator dieser Sonate ist ein Computerprogramm, das ein elektronisches MIDI-Klavier steuert. Ein Pianist ist nicht nötig, sehr wohl aber kann der real existierende User durch elektronische Impulse die in Echtzeit generierte Komposition zufällig verändern. Das Stück wurde 1994 im großen Sendesaal des Österreichischen Rundfunks uraufgeführt. Das interaktive Moment der auch autonom funktionierenden Sonate fand damals noch durch Telefonanrufe der Hörer statt, die durch einen elektrischen Impuls die musikalischen Parameter der Sonate änderten. Seitdem hat Essl diese Echtzeit-Komposition immer wieder live präsentiert. Man kann sie auch aus dem Netz herunterladen und selbst auf dem eigenen Computer spielen lassen. Dieses „work-in-progress“ ist für Essl ein Projekt im Einklang mit seiner Vision einer in Echtzeit generierten unendlichen Musik, die kein Anfang und kein Ende hat, sich niemals wiederholt und dennoch emotional packend ist. Auf der Metaebene dirigiert hier, wie generell im musikalischen Verständnis Essls, der Algorithmus als ein die Komposition bestimmendes Element. Hinter dem musikalischen Schaffen des Komponisten steht eine Philosophie, eine abstrakte Gedankenwelt, die es ermöglicht, Musik neu zu denken und zu erfahren.


Karlheinz Essl, photographed by Reinhard Mayr (2011)

Karlheinz Essl live im Theater Spielraum in Wien, Mai 2011
Foto: Reinhard Mayr


Zurück in die Zukunft

Das Prinzip der Lexikon-Sonate, das Essl mit der Entwicklung seines Softwareinstruments m@ze°2 auf die Spitze trieb, verweist dabei nicht nur auf eine mögliche musikalische Zukunft, sondern in die musikgeschichtliche Vergangenheit, in der die Mathematik musikalischer Strukturen Kompositionen schon früh mit der Funktionsweise von Rechenmaschinen in Verbindung gebracht hat. Die Geschichte elektronischer Musik geht zurück bis ins 19. Jahrhundert, wo Theoretiker, Komponisten und Künstler analog zur technologischen Entwicklung eine Revolutionierung der Tonkunst postulierten. Zu den bekanntesten Exponenten dieser Denkschule gehörten damals die Künstler des Futurismus oder die Erfinder der musique concréte. Nach dem zweiten Weltkrieg trieb die elektronische Musik von Karlheinz Stockhausen neue, bislang unbekannte Blüten. Der Kölner Komponist gilt heute als einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts und als Pionier der so genannten elektronischen Musik, die mit Hilfe von elektronischen Klangerzeugern geschaffen und über Lautsprecher wiedergegeben wird. Die Geschichte der elektronischen Musik ist auch geprägt von zahlreichen Widerständen, die den Künstler von Seiten des etablierten Kulturbetriebs, aber – so geschehen im dritten Reich – auch von der Politik entgegenschlugen. Das Zusammenspiel von Musik und Maschine ist nie selbstverständlich gewesen.


Neu ist alt

Heute ist die Maschine in Form des Personal Computers ein zentraler Gegenstand unserer Gesellschaft und längst unabdingbar bei Produktion und Rezeption von Musik. Ist die Rechenleistung moderner Maschinen, sind die unablässigen Datenströme im Netz nicht eine gute Voraussetzung für einen neuen Umgang mit Musik?

Essl ist, was die technischen Medien betrifft, wenig euphorisch. Er bedient sich zwar häufig des Computers, und doch ist dieser per se für seine Musik nicht sinnstiftend. Ihm geht es um Inhalte, die Musik selbst. Der Computer soll widerspiegeln, was sich der Komponist gedacht hat. Doch das Medium kann zu unreflektiertem Umgang verführen. Entweder, die Musiker geben sich schnell mit dem zufrieden, was ihnen der Computer liefert oder es wird nach wie vor á la „Tonbandgerät“ komponiert. Die Auswirkungen des Digitalen auf Musik hält er deshalb für begrenzt. „Ich finde es angesichts eines so mächtigen Mediums wie dem Computer verblüffend, dass wir Musik nach wie vor in traditionellen, altmodischen Vorstellungswelten denken“, konstatiert Essl. Viel tiefgreifender sei die elektronische Musik und die dahinter stehende Musiktheorie, die eine Neuerfindung der Musik zum Ziel habe – „egal, ob digital, analog oder instrumental“. Das Internet ist für Essl eine interessante und gerade zu Beginn der WorldWideWeb-Welle eine faszinierende Möglichkeit, um mit ähnlich denkenden Musikern weltweit in Kontakt zu treten. Der virtuelle Raum an sich ist für ihn jedoch ohne eigene Akustik. Trotz der digitalen Revolution oder Evolution, die schon seit langem postuliert wird, ist nach seiner Ansicht nach wie vor alles beim Alten. Die Neuerfindung der Musik bleibe bis auf weiteres eine Angelegenheit der Avantgarde.


Musik und Markt

Und doch hatte die technologische Entwicklung erhebliche Auswirkungen auf den Mainstream. Musik aller Art liegt heute in bits und bytes auf den Servern dieser Welt, jedem mit einem Internetanschluss zugänglich, auf Abruf überall und jederzeit hörbar, beispielsweise über ein internetfähiges Mobiltelefon, das zunehmend auch Speicher für mitunter umfangreiche Musiksammlungen ist. Softwareunternehmen, Musik- und Werbeindustrie versuchen den so globalisierten Markt der „Mobile Music“ gewinnbringend zu bespielen. Grenzenlosigkeit ist für Kommerz immer eine gute Voraussetzung. So wird mittlerweile daran gearbeitet, den Usern Musik passend zu Geschmack und Stimmung individuell zugänglich zu machen. „Moodmanagement“ – ganz einfach und bequem. „Wir konsumieren Musik, um negative Gefühle zu kompensieren und positive Gefühle zu verstärken“, erläutert Werner Jauk, Musiker, Musikwissenschaftler und Theoretiker „digitaler Kultur“ an der Grazer Karl Franzens Universität. Verhaltensweisen, denen durch die technische Entwicklungen heute noch leichter entsprochen werden kann. Wohl verändert aber hat sich die „Rezeptionssituation“, also die Alltagssituation in der Musik auf die eine oder andere Weise zum Einsatz kommt. Während man für den Musikgenuss früher ins Konzert gehen musste oder später dann vor dem heimischen Plattenspieler saß, kann man sich heute „just in time“ beruhigende Klänge via Mobiltelefon oder mp3-Player ins Ohr holen – etwa wenn man angstgeplagt im Wartezimmer des Zahnarztes sitzt. Für Jauk ist dieses Szenario unter anderem symptomatisch für das digitale Zeitalter, in dem die Musikalisierung des Alltags auch in dieser Form ein Mittel ist, um der eigenen Körperlichkeit bewusst werden zu können. Denn der Mensch kann sich im im virtuellen Raum nicht mehr spüren. Er verliert angesichts des ständigen Datenflows die Eigenwahrnehmung.


Das Gefühl von 0 und 1

Nach Jauks Theorie des musikalisierten Alltags einer digitalen Kultur verlagern sich daher – sehr vereinfacht gesagt – durch den Dauereinsatz des Computers im Arbeitsalltag und in unserer Freizeit Wahrnehmungsmuster vom visuellen in den auditiven Bereich. Denn der Dynamik des digitalen Raums, so Musikwissenschaftler Jauk, kann der Blick nicht folgen. Zum Tragen komme nun die Logik des Hörens. Die Bewegtheit der virtuellen Welt werde als Klang wahrgenommen, wohingegen ein Bild nur den Augenblick festhalte. „Das Ohr hingegen kann Zeitverläufe wahrnehmen“, erklärt Jauk. Der Klang als Beiprodukt von Emotionalität wird nach seiner Theorie den bisher gängigen visuellen Code ersetzen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die paradoxe Situation, dass gerade die nur auf dem binären Code 0 und 1 basierende digitale Welt den Menschen durch ihren hohen Level an Abstraktion zu einer emotionalisierten, bewegten und damit musikalischen Kommunikationsform via Computer zurückführt. „Etwas hoch Technologisches wird unmittelbar körperlich“, ist Jauk überzeugt. Anzeichen für diese Entwicklung ist beispielsweise die intuitive Bedienung über Touch-Screens oder auch die bewegungsgesteuerte Konsole Wii, die von der Maschine selbst schon völlig entkoppelt erscheint. „Wer wäre denn bis vor kurzem vor dem Computer herum gehüpft?“, fragt Jauk. Die Transgression des Mechanistischen, des Rationellen könne zu einer alternativen Kommunikationsform führen, die Jauk „hedonische Interaktion“ nennt. Die technischen Gerätschaften bauen diese Form der interaktiven Kommunikation nach. Für Jauk schließt sich damit ein Kreis, der beispielsweise auch das frühe Mittelalter umfasst, als Musik noch nicht in Noten verewigt wurde, sondern der Chorleiter seine Sänger über Neumen, also Winke, anwies.


The real thing

Jauk sieht im digitalen Zeitalter die „Rückführung der Alltagskultur in eine akustische, emotional kommunizierende Kultur“ anbrechen. Das ist auch ein Thema, das Essl umtreibt: „Ich finde es interessant, dass man zwar mit Abstraktionen arbeitet, aber dennoch eine lebendige Musik schafft“. So wie die Lexikon-Sonate gestische und plastische musikalische Strukturen schafft, aus sich heraus weiter wächst und dennoch zum Publikum spricht. Das sinnliche Erleben von Musik in einem real vorhanden Raum und in der Interaktion mit dem Publikum ist für den Musiker und Komponisten von entscheidender Bedeutung. „Dieser kommunikative Prozess ist mir irrsinnig wichtig“, sagt Essl. Musik ist nach wie vor ein soziales Ereignis und wird nach Auffassung von Jauk bleiben – auch in einem digitalen „global village“.


in: upgrade, Magazin für Wissen und Weiterbildung der Donau-Universität Krems, Ausgabe 2.11 (Süddeutscher Verlag: München 2011), p. 22-25. - ISSN: 1862-4154



Karlheinz Essl
Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Essl ist Musiker, Medienkünstler und ein renommierter elektro-akustischer Komponist. Seit 2007 hat er außerdem eine Kompositionsprofessur für elektro-akustische und experimentelle Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien inne. Essl studierte Musikwissenschaften und Kunstgeschichte an der Universität Wien sowie Komposition bei Friedrich Cerha und elektro-akustische Musik bei Dieter Kaufmann. Neben diversen Lehraufträgen und kuratorischen Tätigkeiten schuf Essl Instrumentalwerke und Kompositionen mit Live-Elektronik, generative Kompositions-Software, Improvisationskonzepte, Klanginstallationen, Performances sowie Internet-Projekte.

Werner Jauk
Univ.-Prof. Dr. Werner Jauk ist Musiker, Medienkünstler und seit 2006 außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Musikwissenschaft der Universität Graz und ist zudem selbst als Künstler aktiv. 1986 gründete er die Künstlerplattform „grelle musik“ und hat in diesem Rahmen bis jetzt zahlreiche Projekte zwischen Wissenschaft und Kunst realisiert. Jauk beschäftigt sich intensiv mit Klang und moderner Kommunikation. Er studierte Psychologie, Pädagogik und Philosophie an der Universität Graz. Danach trat er einen Lehrauftrag für Experimentelle Ästhetik am Institut für Wertungsforschung der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Graz an. 2005 habilitierte er im Fach Musikwissenschaft mit der Habilitations-Schrift „Der musikalisierte Alltag der digital culture". Jauk ist Vortragender an der Donau-Universität Krems.



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Updated: 7 Feb 2024

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