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Das Universum ist eine Bibliothek mit einer womöglich unendlichen Anzahl von Büchern, in denen alle möglichen Kombinationen der 25 orthographischen Zeichen versammelt sind. Die Menschen der Bibliothek von Babel (so der Titel einer 1941 veröffentlichten Erzählung des Argentiniers Jorge Luis Borges) suchen nach Büchern, in denen sich Zeichenkombinationen finden, die Sinn ergeben. Der Erzähler fand bisher nur einen zusammenhängenden Satz, der da lautet: "Oh tiempo tus piramides". Im Paradigma dieser Erzählung, eigentlich einem sprach-philosophischen Essay, sieht Karlheinz Essl Entsprechnungen zu seinen eigenen kompositorischen Anliegen, die um die Metaphern Chaos & Ordnung, Zufall & Notwendigkeit, Unendlichkeit, künstliche Sprachen, Kommunikation jenseits von Mitteilung kreisen. Im Stück Oh tiempo tus piramides (1988) für Kammerorchester ordnen computer-generierte Zufälle das Material. Um das Verfahren auch auf einer sprachlichen Ebene nachvollziehbar zu machen, erstellte Essl für das ORF-Kunstradio zusammen mit der Schauspielerin Eva Linder die Sprachcollage Zungenreden. Dieses "radiophone Hörstück" dekonstruiert das Ausgangsmaterial des Borges-Textes mehr und mehr, um auf diese Weise künstliche Sprachen entstehen zu lassen, wie sie in den Büchern der babylonischen Bibliothek versammelt sein mögen. In der Performance Sprachlabyrinthe - Ein letztes Borges-Projekt, die Essl und Linder kürzlich in der "Alten Schmiede" präsentierten, wurden diese beiden Stück durch drei weitere live dargebotene Sprachcollagen umrahmt, die zusätzlich biblische Texte über die babylonische Sprachverwirrung und Augustinus' Reflexionen über die Ewigkeit in die Montage einbeziehen, diese in kleinste Bestandteile zerlegen und neu zusammensetzen. Haftete diesen in extenso ausgebreiteten Sprachspielen auch streckenweise etwas Bemühtes an, erhellten sie andrerseits durchaus gangbare und interessante Wege kompositorischer Verfahren, die zum Bestandteil einer neuen Ästhetik der musikalischen Avantgarde werden könnten, wie Karlheinz Essl sie sucht, wissend, daß die Chance, den "Katalog", die "Rechtfertigung oder irgendeine trügerische Abwandlung derselben" (Jorge Luis Borges) zu finden, "mit Null zu beziffern ist". (Heinz Rögl)
in: Salzburger Nachrichten (Salzburg, 22 Januar 1991) |
Realisiert 1990 als Auftragswerk des ORF Kunstradios
Erschienen auf der CD RP4 - Beispiele österreichischer Radiokunst (1992)
Das radiophone Hörstück Zungenreden (1990) basiert auf Jorge Luis Borges' Erzählung Die Bibliothek von Babel. Mit Hilfe eines gemeinsam mit Gerhard Eckel entwickelten Computerprogrammes, das auf einem Markovketten-Algorithmus beruht, wird die literarische Vorlage nach und nach dekonstruiert. Bei anfänglicher Beibehaltung der grammatikalischen Struktur verwirren sich zunächst die semantischen Bezuege. Allmählich wird auch die Syntax brüchig, ehe der Auflösungsprozeß auf die einzelnen Worte übergreift. Es entstehen merkwürdige Sprachvarianten, die zunächst Assoziationen an bestimmte Dialektformen hervorrufen mögen. Daraus entwickeln sich schließlich künstliche Sprachen, die zuletzt in ihre phonemischen Bestandteile zerlegt als reine musikalische Klangwerte, ohne jegliche semantische Bedeutung, ertönen:
Die Bibliothek der Blätter Wildheit
definiglich endlich
Getrieben von dem buchstabenkombinatorischen Gedanken:
"Sprechen heißt in Tautologien zu verfallen."
de insten pollión
solung une dédenger
hupókache uneiem
Bücher der scharlachroten Seite,
deren Zufallsbände ständig in Gefahr schweben;
das ins Überfeen
schlüssigende Gramidém:
Hoffnung, die allschränkt, behauern!
Eva Linder und Karlheinz Essl über ihre Zusammenarbeit für das Hörstück Zungenreden (1990)
„Unvertraute Töne”. So betitelt Michael Weber im FALTER einen Artikel über Karlheinz Essl. Unvertraut ist die Stimme von Eva Linder zwar nicht, aber das, was Karlheinz Essl mathematisch daraus macht, das kann schon irritieren. Er speicherte Borges’ Text Die Bibliothek von Babel in einen Computer und ließ den damit arbeiten, nach einem vorgegebenen Programm. Und daraus sollte etwas Reiches, Schönes, Faszinierendes und Unregelmäßiges entstehen. Klänge, die im wenigsten genau vorauberechen bar sind. Genau das macht nämlich die Mathematik.
Die Welt als Einheit auffassen. Gegensätze, die nicht mehr als widerstreitende Prinzipien, sondern als verschiedenartige Ausprägungen desselben übergeordneten Aspekts aufgefasst werden. Zwischenstufen werden ermittelt und bilden gleichzeitig ein Kontinuum.
Grundkonzept von Zungenreden:
Zwei Ausschnitte aus der Realisationspartitur von Zungenreden:
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Updated: 2 Feb 2022