Karlheinz Essl

Portrait

absence

for violin solo
1996

Commissioned by Ernst Kovacic
Vienna Festival 1996


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Ernst Kovacic zu Karlheinz Essls absence:

"Bei Karlheinz Essl, dessen Solostück "absence" ich zur Uraufführung bringe, gab es am Anfang eine Besprechung, und dann hat er seine Komposition in zwei, drei Schüben geliefert. Das Stück liegt nun vor, und ich freue mich sehr, daß es so geworden ist, wie es nun dasteht. Meine Vermutung hat mich nicht getäuscht, daß Essl wirklich einen Beitrag zur Gattung leisten kann. Er ist ein sensibler, der Geistigkeit der Avantgarde verpflichteter Musiker, zugleich aber ein Komponist, der sich sehr intensiv mit dem Instrument auseinandersetzt und genau weiß, wofür er schreibt. Wenn er zum Beispiel das, was die rechte Hand zu tun hat, getrennt von der linken notiert, so ist das nicht nur ein geistiges Experiment wie bei Cage, sondern eine durchaus praktikable, sinnvolle Bereicherung der Notationsweise."

Sich mit dem Leben auseinandersetzen. Ernst Kovacic im Gespräch mit Joachim Reiber;
in: Mitteilungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Mai/Juni 1996)



Werkkommentar I

Unter "Abwesenheit" versteht der allgemeine Sprachgebrauch die Abwesenheit von jemandem oder etwas. Der Begriff wird für ein Fehlen, ein momentanes oder generelles Nicht-Vorhanden-, d.h. Nicht-Greifbar-Sein eines Gegenstandes oder einer Person verwendet. Erst das strukturalistische Denken hat das Subjekt thematisiert, das die Abwesenheit konstatiert und das Fehlen von jemandem oder etwas als Mangel erkennt. "Die Abwesenheit aussprechen", meint Roland Barthes, "heißt von vornherein die Behauptung aufstellen, dass der Platz des Subjekts und der Platz des Anderen nicht austauschbar ist".

Doch nicht mit dem Nicht-Vorhandenen beschäftigt sich Karlheinz Essl in seiner Komposition absence für Violine solo von 1996, sondern mit jenem Prozess, der über das Sich-Entfernen, das Entfernt-Werden, die Reduktion (als das Weniger-Werden) zur Abwesenheit führt. absence ist für Essl nicht nur der Zustand der Abwesenheit, er versteht den Begriff auch als "Weg-Treten", als "(Sich-)Vergessen".

Ernst Kovacic, der Interpret der Uraufführung, sprach von dieser Komposition als "Beitrag zur Gattung" und hob in einem Interview Essls intensive Auseinandersetzung mit den spieltechnischen Möglichkeiten des Instrumentes hervor. Tatsächlich ist absence eine Komposition, die musikalisches Material, Materialbehandlung und Struktur optimal mit dem Instrument und seinem Ausdrucksspektrum verschmilzt. Das Bestreben Essls, nicht bloß für Instrumente zu schreiben, sondern Musik aus einem Instrument entstehen zu lassen - das Instrument also nicht lediglich als exekutives Organ zu benützen, das die Musik hörbar macht, sondern das Instrument als Teil der Musik einzusetzen - wird gerade in absence besonders deutlich.

Die Komposition hat die Zerlegung bzw. Sezierung und die Neukonstruktion von ursprünglich Verbundenem zum Inhalt. Die beginnt schon bei der komplexen Notationsweise, die Essl anwendet. "Wenn er zum Beispiel das, was die rechte Hand zu tun hat, getrennt von der linken notiert", so meinte Ernst Kovacic, "so ist das nicht nur ein geistiges Experiment wie bei Cage, sondern eine durchaus praktikable, sinnvolle Bereicherung der Notationsweise". absence bedient sich dabei nicht bloß der polyphonen Möglichkeiten der Solovioline. Essl spaltet die solistische Linie in verschiedene Ereignis-Ebenen, die zwar innerhalb der strukturellen Konzeption miteinander verbunden bleiben, jedoch die herkömmliche Klangvorstellung, die der Rezipient mit dem Instrument verbindet, nachhaltig irritieren.

Essl hinterfragt die Selbstverständlichkeit der Physis des Instruments und seiner "Handhabung", die Notwendigkeit des Kontakts von Saite und Bogen zum Zwecke der Tonproduktion, die tradierte Scheinlogik von struktureller und semantischer Ordnung. Sogar vor irregulärer Fingerhaltung bei manchen Trillerfiguren schreckt er nicht zurück, den der Prozess des "Weg-Tretens" kennt das Regeldiktat der Tradition nicht.

Wer nun aber meint, bei absence handle es sich um ein durch und durch "freies (weil regelwidriges) Stück", täuscht sich. Allein die "quasi-trillo"-Figuren des Anfangs und ihre vielgestaltige Wiederkehr bzw. ihre materialhafte wie strukturelle Ausdeutung im Stück lassen ahnen, dass absence weit davon entfernt ist, ein selbstvergessenes Dahinmusizieren auf höchstem spieltechnischen Niveau zu sein.

Im Gegenteil: Der Weg dieser Komposition aus der "quasi-trillo"-Keimzelle des Beginns bis zum vielleicht emotionslos-lyrischstem Schluss, den Essl bis dahin geschrieben hat, ist nach eigenen Gesetzen gestaltet. absence ist kein orientierungsloses Suchen auf dem artifiziellen Trümmerfeld der zerbrochenen Einheit, kein nostalgisch beseelter Akt der Sehnsucht nach der unwiederbringlich verlorenen Bindung bzw. Fügung der Teile zum Ganzen. Essls Stück kündet von der künstlerischen Bereitschaft, im Verbrüchlichen zu leben.

© by Christian Baier (1998)

in: Programmheft der Wiener Konzerthausgesellschaft anläßlich einer Aufführung von absence
im Rahmen des Festivals "Hörgänge" am 24. März 1998 durch Ernst Kovacic im Schubertsaal.


Werkkommentar II

Karlheinz Essls absence für Violine solo aus dem Jahr 1996 beschäftigt sich nicht mit Abwesenheit oder dem Fehlen von etwas, sondern mit dem Prozess des Sich-Entfernens, des Entfernt-Werdens und der Reduktion, der zur Abwesenheit führt. Essl betrachtet „absence“ nicht nur als einen Zustand der Abwesenheit, sondern auch als eine Distanzierung, ein Selbstvergessen.

In absence findet eine Dekonstruktion und Rekonstruktion dessen statt, was ursprünglich verbunden war. Diese Herangehensweise spiegelt sich bereits in der komplexen Notation wider, die Essl verwendet. Ernst Kovacic, dem das Stück gewidmet ist, betont, dass die separate Notierung der Noten für die rechte und linke Hand nicht einer rein intellektuellen Experimentierfreude wie bei Cage entspringt, sondern tatsächlich eine praktische und sinnvolle Bereicherung der Notation darstellt.

Diese Notation erfordert zwar eine beträchtliche Eingewöhnungszeit für den Interpreten, ermöglicht ihm dann aber, präzise Details auszudrücken, die in traditioneller Notation kaum vermittelbar sind. Beispielsweise können die Glissandi in den Arpeggien ab Takt 213 in traditioneller Notationsweise nur begrenzt dargestellt werden. Durch die separate Notierung von linker und rechter Hand wird es dem Komponisten hingegen möglich, seine Klangvorstellung genau auszudrücken, ohne verschiedene mikrotonale Vorzeichen verwenden zu müssen.

Screenshot

Die getrennte Notation bewährt sich beispielsweise auch für die unterschiedlichen rhythmischen Proportionen der linken und rechten Hand ab Takt 225:

Screenshot

Christian Baier schrieb für ein Programmheft des Wiener Konzerthauses: „absence ist kein orientierungsloses Suchen auf dem artifiziellen Trümmerfeld der zerbrochenen Einheit, kein nostalgisch beseelter Akt der Sehnsucht nach der unwiederbringlich verlorenen Bindung bzw. Fügung der Teile zum Ganzen. Essls Stück kündet von der künstlerischen Bereitschaft, im Verbrüchlichen zu leben.“

© by Youngseo Kim (1923)

in: Programmheft von Bibliotheksmusik in der Universitätsbibliothek der mdw (23.6.2023)


Watch

Karlheinz Essl: absence (1996)
performed by Andrey Pavlov during the EM-VISIA Festival Kiev

Kiev, Plivka (19 Nov 2016)


Listen

Karlheinz Essl: absence (1996)
performed by Ernst Kovacic

SCHÖMER-HAUS Klosterneuburg (6 Dec 2008)


Score

The score of absence can be downloaded for free.

absence, p. 8
© 1996 by Karlheinz Essl



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Updated: 25 Jun 2023

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