Michael Weber / Stefan Jena (Mitarb.)

Zum Thema Interpretation

Drei Beispiele [Witold Lutoslawski: Dritte Sinfonie, György Ligeti: Étude 9 - Vertige, Karlheinz Essl: Rudiments für vier kleine Trommeln]
aus dem Blickwinkel der Systematischen Musikwissenschaft
1994


(...) Im selben Jahr 1990, in dem GYÖRGY LIGETI diese höchst anspruchsvolle "Klavierübung" schuf, schloß der 1960 geborene Karlheinz Essl, der in Österreich zu den erfolgreichsten Komponisten seiner Generation zählt, die Arbeit an Rudiments (1989/90) für vier kleine Trommeln ab. Zur Erläuterung der ungewöhnlichen Besetzung dieser Bruchstücke schrieb er unter anderem folgendes:

"Die Grenzwerte der Beziehungsmatrix umfassen isolierte Einzelschläge, die sich zu rhythmischen Rastern beschleunigen und schließlich in flächige Wirbelklänge münden, wo die Pulsationsgeschwindigkeit so hoch ist, daß die rhythmische Qualität in einen stehenden Klang umschlägt." Gegen Ende des Werkes zu "erscheint als komplexes Resultat miteinander vernetzter Klangprozesse schließlich ein bewegter Organismus, der im Raum zu schweben scheint". (ESSL 1991:13)

Zieht man auf der Suche nach dem angekündigten Effekt die Partitur zu Rate (16), so kommen dafür bloß zwei Stellen in Frage (siehe Abb. 6a und 6b). Im ersten Fall, bei dem die Spieler auf die Kante ihrer Instrumente schlagen, wird die für das Entstehen einer Tonhöhenempfindung vorgegebene Grenze von 50 ms (17) unterschritten bzw. knapp überschritten (18). Dennoch stellt sich bei der beabsichtigte Höreindruck nicht ein (19). Zum einen sind die auf Geheiß des Komponisten im Raum verteilten Trommeln deutlich als verteilte Quellen lokalisierbar und unterscheiden sich in ihrer Tonhöhe merklich, zum anderen fällt die tatsächlich gespielte Schlagfolge zu unregelmäßig aus. Im zweiten Fall kann selbst bei der idealen Halbierung dem Notentext gemäß der nötige kleine Wert unzweifelhaft nicht erreicht werden. (20). Zusätzlich sorgen die starken Sforzati für beträchtliche Unregelmäßigkeit. Also vermag selbst eine noch so gewissenhafte Ausführung des Notentextes keinesfalls den vom Komponisten angestrebten Effekt eines kontinuierlichen Tonhöheneindrucks, wie er mit Hilfe von S_TOOLS (21) unschwer erzeugt werden kann (22) (siehe Abb. 6c), hervorzubringen.

© 1994 by Dr. Michael Weber & Stefan Jena


Anmerkungen:

(16) Für die Überreichung der Partitur dieser bisher unveröffentlichten Komposition und anderer Werke und für die Gespräche seine Kompositionsweise betreffend möchte ich Karlheinz Essl, Klosterneuburg, herzlich danken.

(17) KARLHEINZ STOCKHAUSEN gibt als obere Grenze sogar eine Zweiundreißigstelsekunde, also 31.25 ms, an (in: Karlheinz Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht...; in: Texte, Bd. 1, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln 1963, S. 100)

(18) Bei der Einhaltung des vorgeschriebenen Tempos - Viertel ist gleich 90 - ergibt die Überlagerung von normalen Sechzehnteln, Sechzehntelquintolen und Sechzehntelsextolen die ideale Abfolge von 111 ms, 22 ms, 33 ms, 55 ms, 66 ms und wieder zurück, also nochmals 66 ms, 44 ms usw.

(19) Der Effekt konnte weder bei der Aufführung durch Les Guetteurs des Sons - HEINZ KARL GRUBER im Rahmen des Musikfestes Österreich heute am 21. März 1990 im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses, noch kann er bei der damals entstandenen Aufnahme nachvollzogen werden, wie auch eine spektrographische Prüfung keinen Hinweis auf ein mögliches Entstehen ergibt. - Für den prompten Erhalt einer Kopie der Aufnahme möchte ich Karlheinz Essl, Klosterneuburg, herzlich danken.

(20) Die vorgeschriebene Schlagzahl 480 pro Minute ergibt eine Zeitabfolge von 125 ms.

(21) S_TOOLS ist ein eingetragenes Warenzeichen der Forschungsstelle für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien. Sämtliche hier in Abbildung dargestellten Spektrogramme und Zeitfunktionen wurden unter Benützung der S_TOOLS-Station am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien angefertigt.

(22) Für den Einbau einer entsprechenden Rauschpuls-Funktion in die Synthese-Bibliothek von S_TOOLS möchte ich ANTON NOLL, Forschungstelle für Schallforschung der Österreichischen Akademie für Wissenschaften, Wien, vielmals danken.


In: Vergleichend-systematische Musikwissenschaft. Beiträge zur Methode und Problematik der systematischenen, ethnologischen und historischen Musikwissenschaft. Franz Födermayer zum 60. Geburtstag, hrsg. von Elisabeth Th. Hilscher und Theophil Antonicek (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, hrsg. von Othmar Wessely, Band 31). Tutzing: Hans Schneider, 1994, S. 187-211


Anmerkung des Komponisten:
Die mir hier unterstellte Absicht, einen kontinuierlichen Tonhöheneindruck zu erzielen wollen, möchte ich entschieden zurückweisen.



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Updated: 11 Apr 2007

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