Harald Naegeli, 1939 als Sohn einer Künstlerin und eines
Psychiaters in Zürich geboren, trat erst im Jahre 1977 an die
breite Öffentlichkeit. Im Unterschied zu manch Anderem tat er dies
aber in völliger Anonymität: als Phantom sprühte er -
meistens im Schutze der Dunkelheit – rasche Strichgesten auf
Gebäude, Brückenpfeiler und Betonwände, was ihm den
Namen "Der Sprayer von Zürich" einbrachte. Solche "Kunst im
öffentlichen Raum" traf den Nerv der Schweizer Bevölkerung:
es wurde ein Kopfgeld auf die Ergreifung des Sprayers ausgesetzt, der
aber erst zwei Jahre später festgenommen wurde. In der Folge
dehnte Naegeli seine Aktivitäten auf deutsche
Großstädte aus, wobei groß angelegte Zyklen wie der
ca. 600 Spraybilder beinhaltende Kölner Totentanz (1980/81)
entstanden. Heute existieren nur mehr Photodokumente davon, da die
Graffitis meist schon am nächsten Tag von städtischen
Säuberungstrupps entfernt wurden. Ein internationaler Haftbefehl
zwang Harald Naegeli, in verschiedenen europäischen
Großstädten unterzutauchen, ohne aber seine Sprayaktionen
einzustellen. 1984 stellte er sich schließlich den Schweizer
Behörden und verbüßte eine mehrmonatige Haftstrafe.
Naegeli, der sich als politischer Künstler versteht, hat eine fundierte künstlerische Ausbildung genossen. Er studierte an der Zürcher Kunstgewerbeschule und der Pariser Ecole des Beaux-Arts. Daneben begann er ein Klavierstudium am Konservatorium und setzte sich intensiv mit Schönberg und Webern auseinander. Seit einigen Jahren hat sich Harald Naegeli – neben den Graffitis – verstärkt der Zeichnung zugewandt. In den zunächst entstanden Arbeiten auf grobem Chinapapier nahm er dessen zufällige Körnigkeit zum Ausgangspunkt spontaner Stenogramme des Unterbewußten. Sein Interesse an organischer Prozeßhaftigkeit spiegelt sich in täglichen "Materialmeditationen" wider, in denen er natürliche Strukturen – Blätter, Rindenstücke, Federn, Wolkenformationen etc. – zeichnerisch zu erfassen sucht. Dabei geht es Naegeli nicht um die figürliche Abbildung der Vorlage, sondern den Blick hinter das Sichtbare auf verborgene Zusammenhänge. Wichtige Anregungen bezieht er aus den Zeichnungen der Donauschule und Albrecht Dürers. Daran interessieren ihn weniger die figürlichen Darstellungen oder bestimmte kompositorische Aspekte, sondern die mikroskopische Feinstruktur. Betrachtet man einen Kupferstich von Dürer durch die Lupe, wird der Blick auf ein Gewirr von Linien und Punkten gelenkt, die – wieder aus der Entfernung betrachtet – die Illusion von Oberflächenbeschaffenheit und Räumlichkeit suggerieren. In seinen 1987 begonnenen Partikelzeichnungen hat Naegeli nun diese Technik vom Knechtsdienst der illusionistischen Darstellung befreit und selbst zum Material seiner Kunst gemacht. Im Verborgenen lebt hier die gestische Komponente der Graffitis noch fort, wenngleich sie – anders als bei den in größter Schnelligkeit, meist aus einer einzigen Bewegung hervorgebrachten Spraybildern – während eines sehr langsamen Reifungsprozesses allmählich hervorwachsen. Ohne irgendwelche Vorgaben oder Planungen arbeitet Naegeli direkt auf glattem weißen Papier, meist an mehreren Bilder gleichzeitig. Mit einer winzigen Stahlfeder setzt er sorgsam feine Punkte und Striche gegeneinander, deren Konstellationen, Verknäuelungen und Zerfall ihn zu spontanen, unbewußten Reaktionen auf das sich gerade Herausbildende nötigen. Dabei fungiert Naegeli nicht als über allen Dingen stehender, erhaben waltender Meister, der das im Inneren erdachte Bild souverän zu Papier bringt, sondern als Teil eines Organismus, der in einem unkontrollierten und unkontrollierbaren Prozeß der Autopoiëse zu wuchern beginnt, neue Richtungen einschlägt und unvorhersehbare Mutationen gebiert. Deshalb stellen Naegelis Partikelzeichnungen keine abgeschlossenen Endzustände, vielmehr "offene Formen" dar, die – wenngleich auch zeichnerisch fixiert – dem Betrachter unendlich viele Zugänge und Wege offenhalten, in denen er sich selbst begegnen kann.
"Für mich ist die "Entdeckung" der Partikelbewegungen eine natürliche Entwicklung, eine nunmehr zeitgeschichtlich selbstverständliche Aufmerksamkeit auf eine noch weitgehend unbekannte Dimension. Wenn nämlich vor dem 1. Weltkrieg vornehmlich die Form (Composition) untersucht wurde, nach dem 2. Weltkrieg im Informel äusserst differenzierte Materialdarstellungen zum Ausdruck kamen – also Materialität gemeinhin als Bewusstsein hervorrückte – so ist die Reflexion der Zusammensetzung, die Untersuchung der Bewegung der/als Materialität durchaus [noch] ausständig. Materialität = Partikelbewegung = Materialität. Dieses Bewußtsein zu fördern, dieses Denken sicht- und hörbar zu machen scheint unsere Aufgabe zu sein. Es geht also um die Sicht- und Hörbarmachung von Etwas, was über die blossen Sinne nicht unmittelbar erfahren werden kann." (Aus einem Brief an Karlheinz Essl vom 11. November 1991)"Mein Anliegen ist die Erzeugung von Bewegung. Nun erscheint jede zeichnerisch festgelegte Form statisch. Das Problem ist: wie kann man im Kopf des Betrachters die Vorstellung oder die Illusion von Bewegung suggerieren? Um dies zu erreichen, vermeide ich geschlossene Formen. Meistens mache ich Linien, die keine geschlossenen Formen bilden, sondern irgendwo verlaufen, anfangen und dann irgendwo aufhören. Man kann es vielleicht auch noch so sagen, daß die Formlosigkeit deshalb erstrebt ist, weil sie durch ihre chaotische Natur Bewegung provoziert. Diese chaotischen Prozesse der Zeichnungen sind notwendig für den Gestaltungsprozeß und auch für die Vorstellung von Bewegung. Die Anarchie oder Formlosigkeit, wo keine Gestalt, keine Festlegung ist, ist eines der ganz wesentlichen gestalterischen Elemente meines Zeichnens." (Aus einem Interview mit Susannah Cremer, 1990)
"Ich suche mich von Ich-Zwängen zu lösen, besonders über das Zeichnen. Denn diese europäischen Willensanstrengungen sind eine Art Zwang und Ballast, und sie führen eigentlich ausnahmslos immer wieder zu Machtansprüchen jeglicher Art. Praktisch suche ich mich möglichst von allen von der Gesellschaft mehr oder minder eingeflüsterten Ideologien zu distanzieren. All das, was die Gesellschaft bisher für wichtig hält: also mächtig sein, reich sein, berühmt sein, schön sein, erfolgreich sein usw., diese Dinge bedeuten mir sehr, sehr wenig bis nichts. Und zwar nicht aus Devotion, sondern aus einer professionellen Einsicht, daß all diese Leidenschaften und Eitelkeiten Bremsklötze und Hindernisse für die wirklich interessanten Dinge sind, und für das, worauf es letztlich ankommt: unabhängig zu sein. Dazu gehört einmal die Auseinandersetzung mit der Natur; dazu gehört auch ein Teilhaben an denjenigen, vielleicht sogar kosmisch zu nennenden Prozessen, die von diesem sehr winzigen Ich-Punkt wegführen und das Erlebnis von Raum und gar Freiheit vermitteln." (Aus einem Interview mit Susannah Cremer, 1990)
in: winter-ton, hrsg. von Karlheinz Essl (ISCM Austria: Linz 1991/92)
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Updated: 28 Dec 2022