Es mag manchem paradox erscheinen, wenn ich die Auffassung vertrete, daß
das Material in Zeiten der Postmoderne weder ein gleichsam auf der Straße
liegendes objet trouvée, noch ein vorgegebenes und frei
verfügbares Idiom ist, sondern einzig und allein ein Ergebnis
kompositorischer Arbeit darstellt.
Die Vorstellung eines objekthaften Materials wurde nicht zuletzt durch die Entdeckung der Selbstorganisation in Offenen Systemen und ihre Übertragung auf die künstlerische Poetik obsolet: an Stelle eines statischen Objekts als Verkörperung des zeitlosen Seins tritt nunmehr der zeitgerichtete dynamische Prozeß des Werdens. Kompositorisches Material erscheint somit nicht als etwas Erstarrtes, sondern als Potential, daß sich in einem zeitlichen Prozeß fortwährend neu generiert. Diese anvisierte Offenheit (die es dem Hörer ermöglichen soll, seinen eigenen Weg durchs Labyrinth der Klänge zu entdecken) müßte aber bereits im Material angesiedelt sein, das sich eher auf mehrdeutige, kontextabhängige Relationen gründen würde als auf eindeutige, linear lesbare Setzungen.
Dieser neue Materialbegriff verdankt sich der Dialektik zweier Prinzipien: Als Matrix von Relationen, als vordefiniertes Feld von Möglichkeiten verkörpert das Material den objektivierbaren Aspekt der Gedankenwelt des Komponisten. Doch erst seine subjektive kompositorische Auswertung vermag diese tote, abstrakte Matrix zu wucherndem Leben erwecken: in der Interaktion zwischen Objekt (Matrix) und Subjekt (Komponist) transformiert sich die ursprüngliche Abstraktion zur sinnlich erfaßbaren Gestalt. Dies ist die eigentliche Triebkraft der materialen Fluidität. Abhängig vom musikalischen Kontext und dem individuellen persönlichen Erkenntnisstand (der sich im Verlaufe des Kompositionsprozesses ändern mag) können gleichartige Matrix-Konstellationen völlig unterschiedlich interpretiert werden und so in vielfältiger Weise sinnlich in Erscheinung treten. Um dies zu ermöglichen, erscheint mir der Verzicht auf vollständige Prädetermination unumgänglich. Erst die Schaffung bewußt offen gelassener Freiräume erlaubt die kontextabhängige subjektive Übersetzung ins Sinnlich-Konkrete. Damit wird auch Abschied genommen von der Utopie einer integralen Musik, die allein aufgrund ihrer eigenen Voraussetzungen funktioniert und als hermetischer Algorithmus nur sich selbst zum Inhalt hat.
NB: Der Text basiert auf der Lecture New Aspects of Musical Material, die am 18. Juni 1992 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik gehalten wurde.
Home | Works | Sounds | Bibliography | Concerts |
Updated: 12 Apr 2019