"Dieser Raum ist ein Instrument!" Strahlend schaut Karlheinz Essl von der zweiten Galerie in die Rotunde des neuen Ausstellungshauses der Sammlung Essl hinab und freut sich über seinen Triumph: "Ich hab's schließlich durchgesetzt, dass dieser Raum völlig leer bleibt." Ursprünglich sollte der nach oben offene Halbzylinder, der in die große Ausstellungshalle seines neuen Museums in Klosterneuburg hineinragt, mit einer Skulptur von Mario Merz ausgestattet werden. "Schon als ich den Raum nur auf einem Plan gesehen habe, war ich mir über seine akustischen Eigenschaften im Klaren. Wenn man Lautsprecher gegen die geschwungene, absichtlich ganz glatt verputzte Wand richtet, ergeben sich völlig unvorhersehbare Reflexionen. Das gleiche Signal kommt also immer wieder, leicht zeitverzögert, so dass Phaseneffekte entstehen. Dabei beeinflussen sich die Gegenphasen des Obertonspektrums, löschen sich gegenseitig aus oder verstärken sich - wie bei einem sogenannten Kammfilter. Meistens bekommen die Klänge dadurch oben so einen metallischen Glanz."
Rotunde des Essl Museums (Klosterneuburg)
Ein Effekt, den man selbstverständlich auch mit dem Computer erzeugen kann. Aber gerade der Computermusiker Essl ist fasziniert davon, nun auch einen Kammfilter in echt, gleichsam als Naturphänomen im Raum zu haben - selbst wenn dieser längst nicht so kontrollierbar ist wie ein digitaler. Also ließ der 1960 in Wien geborene Essl - die begeisterte Unterstützung des Architekten Heinz Tesar im Rücken - statt der ursprünglich vorgesehenen Skulptur vier schwenkbare Lautsprecher installieren, drei mal drei Farbscheinwerfer in rot, grün und blau samt Farbmischpult einbauen und reservierte sich die Rotunde für Konzerte und Klanginstallationen, die im Rahmen des von ihm kuratierten Musikprogramms im Ausstellungshaus der Sammlung Essl regelmäßig stattfinden werden."Auf diesem Instrument sollen viele spielen, nicht nur ich: Komponisten, Klangkünstler, auch Leute, die gar nicht von der Musik kommen, sondern beispielsweise von der bildenden Kunst." Also macht Karlheinz Essl aus seinem Instrument gleich eine "Bühne", die permanent bespielt wird. Freilich nicht immer live; auch Klanginstallationen - fallweise unter Einbeziehung der vorhandenen Lichtanlage - sollen hier ihren Platz haben. Von zwei Galerien aus haben die Zuhörer direkten Einblick in die Rotunde - was dort akustisch passiert, wird aber auch im oberen "Großen Saal" zu hören sein.
Doch Essl begeistert sich auf seinem Rundgang durch die Baustelle des Ausstellungshauses nicht nur für sein neues Raum-Instrument. Stolz zeigt er in fast jedem Bereich des neuen Museums auf fix installierte und von einer eigenen Schaltzentrale aus steuerbare Lautsprecher, die ihm gleich ein halbes Dutzend möglicher Aufführungsorte für seine Konzertreihe react_chain_ verschaffen. So werden künftig etwa einmal im Monat das Foyer, der Vortragssaal (der vordere Teil der Ausstellungshalle), eine fensterlose Blackbox im Bereich der Galerien, ein leerstehendes Depot im Keller, der offene Innenhof des Hauses oder eben die Rotunde zu eigenwilligen Konzertsälen. Nicht verwunderlich bei einem Komponisten, der den Raum schon lange als wesentliche Komponente in den Kompositionsprozess miteinbezieht.Während Essl als Musikkurator des SCHÖMER-HAUSES die vier jährlichen Konzertveranstaltungen dort schon seit Jahren Werken der klassischen Avantgarde vorbehält (und seine eigenen dabei stets ausschloss), geht es ihm bei "react_chain_" um etwas ganz anderes: "Die meisten Kompositionsaufträge des SCHÖMER-HAUSES sind gezielt für dessen Foyer mit all seinen Eigenheiten geschrieben worden. Hier, in der Sammlung Essl, möchte ich improvisierenden Experimental-Musikern einen festen Platz geben, den sie in Wien bislang noch nicht haben. Das ganze ist ein langfristiges Projekt: Ich möchte am Anfang verschiedene Musiker sozusagen wie Moleküle ins Spiel werfen, die aufeinander prallen, aufeinander reagieren und im Laufe der Zeit einen Pool bilden, der immer neue Projekte anregt. Und ich selbst werde dabei auch mitmischen."
Das SCHÖMER-HAUS in Klosterneuburg
Foto © 2012 by Pez Hejduk
Dabei soll die Bildung des geplanten Musiker-Pools natürlich nicht systematisch erfolgen. Wer sich in der vitalen Wiener Improvisationsszene aber etwas auskennt, wird in der Programmvorschau von "react_chain_" einige Bekannte finden, die oft auch bereits zuvor mit Essl gespielt haben. Zum Beispiel gleich bei der Eröffnung des Ausstellungshauses am 4. und 5. November 1999. Für pFLUG, eine weitere Manifestation seines work-in-progress fLOW, hat sich Essl vier namhafte Kollegen eingeladen: Christian Fennesz und Peter Rehberg, beide vom Wiener Elektronik-Label "mego" und dieses Jahr bei der Ars-Electronica in der Kategorie Digitale Musik ausgezeichnet, werden gemeinsam mit Zeitblom, einem Berliner Laptop-Musiker und Karlheinz Essl selber über dessen Soundscape fLOW improvisieren - optisch begleitet von einer Video-Projektion der Berliner Künstlerin Tanja Diezmann.
In Weiterführung seines interaktiven Projektes Amazing Maze (siehe Parnass 2/97) entwickelte Karlheinz Essl auf Basis des IRCAM-Programms MAX/MSP sein "elektronisches Instrument" m@ze°2 (Modular Algorithmic Zound Environment), das in Echtzeit Klänge wie die soundscape fLOW produziert und dem Komponisten hilft, einen alten Traum zu verwirklichen: Essl hat, wie er auf seiner Homepage (www.essl.at) erläutert, die Vision einer Musik, "die sich im Moment ihres Erklingens selber komponiert, die nicht einfach die Wiedergabe eines vorgefertigten Textes ist, die auf äußere Einflüße reagieren kann, die sich zeitlich unbegrenzt ausdehnen kann und die sich niemals wiederholt".
Karlheinz Essl während einer Live-Peformance mit m@ze°2
All das bietet m@ze°2, indem es dem Musiker per Mausklick Zugriff auf einen sich ständig erweiternden Fundus gesampelter Klänge und deren Bearbeitung, Verfremdung, Verknüpfung in Echtzeit erlaubt. Auch wenn Essl die Kontrolle über alle Prozesse immer selber behält, bietet das Programm doch die Möglichkeit, von außen, etwa aus dem Internet, Einfluß zu nehmen, Einsätze zu bestimmen oder vorgegebene Improvisationsanweisungen zuzuteilen. Am 26. Februar 2000 wird Essl in Brüssel wieder ein solches Projekt unter dem Titel more or less realisieren und dabei das Ensemble d'Action (Karin De Fleyt, Flöte; Tom Pauwels, E-Gitarre; Arne Deforce, E-Cello; Fedor Teunisse, Schlagzeug) und sich selbst am Laptop vom Computer und von Zuhörern via Internet steuern lassen.Für das Eröffnungsevent pFLUG jedoch hat Essl selber einen genauen Ablauf erarbeitet. Insgesamt 200 Minuten lang werden die vier Musiker auf Laptops über fLOW-Variationen improvisieren, die der Komponist seinen drei Kollegen als Klangmaterial zur "respektlosen Verfügung" gestellt hat. Nur ihre Einsätze, Spieldauern und Pausen sind dabei präzise festgelegt. "Wichtigstes Kriterium ist die absolute Gerechtigkeit. Jeder Musiker soll 100 Minuten lang spielen und 100 Minuten lang Pause haben, wobei die aktiven Phasen gegen Ende zu immer länger werden."
Die absolute Gerechtigkeit unter den Stimmen - ein deutliches Indiz dafür, wie tief der ehemalige Schüler von Friedrich Cerha trotz aller improvisatorischer Elemente immer noch im Serialismus verwurzelt ist. "Ich bin ein Komponist, der aus der klassischen Avantgarde-Bewegung kommt, dessen angestammter Arbeitsplatz der Schreibtisch im Elfenbeinturm, und dessen angestammter Aufführungsort der Konzertsaal ist." Allein damit will sich Essl jedoch nicht zufrieden geben. "Site-specific" soll seine Arbeit sein, der Raum dabei zur wesentlichen kompositorischen Komponente werden.
Ein Ziel, das sich Essl nicht nur für seine Improvisationsarbeiten mit dem Computer vorgenommen hat. Auch in Arbeiten aus seinem angestammten Bereich wird Essls musikalische Raumbezogenheit deutlich. Wie etwa bei dem von ihm realisierten Kompositionsauftrag zur 50-Jahr-Feier der Republik Österreich 1995. Das Orchesterstück Intervention lebt ganz von dem - geplanten - Aufführungsort, der Säulenhalle im Foyer des Nationalrates, genauer: von dem enormen Nachhall, der in diesem Raum herrscht. Nicht allein die Töne, die die vier identisch besetzten Orchestergruppen spielen, machen bei "Intervention" die Musik; erst wenn sich die Klänge mit 12-sekündigem Hall im Raum ausbreiten, entsteht die Musik im Sinne eines mehrdimensionalen Klanggebildes. Zur Aufführung im Parlament kam es wegen vorgezogener Neuwahlen übrigens nie; das Stück wurde erst 1996 im Großen Saal des Wiener Konzerthauses (während des Festivals "WIEN MODERN") uraufgeführt, die dort fehlenden zehn Sekunden Hall mit Computerhilfe ersetzt.Doch nicht allein auf die akustischen Eigenheiten eines Raumes möchte Essl mit seiner Musik Bezug nehmen, sondern auch auf dessen sozio-kulturellen Kontext. "Wenn ich im rhiz - einem Wiener Szenelokal - spiele, befriedigt es mich nicht, dort eine Avantgarde-Show abzuziehen. Ich möchte auch mit der Erwartungshaltung dieses Publikums als Material arbeiten. Das bringt mich dazu, eine ganz andere Musik zu machen: Musik, die stark von der Situation und der Konzentration des Publikums ausgeht. Das ist fast wie ein Flirt."
in: Parnass Sonderheft 16: Die Sammlung Essl, hrsg. von Charlotte Kreuzmayer (Wien, Oktober 1999)
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Updated: 9 Jul 2016