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Intervention

Karlheinz Essl im Gespräch mit Christian Scheib

Anläßlich der Uraufführung von Intervention
im Großen Saal des Wiener Konzerthauses
im Rahmen von "WIEN MODERN '96"

ORF


Christian Scheib: Im Großen Konzerthaussaal in Wien steht eine Komposition von Karlheinz Essl auf dem Programm, eine Komposition für Orchester, genauer gesagt für 4 im Raum verteilte Orchestergruppen. Beginnen wir mit dem Titel: es gibt den Stücktitel Intervention, es gibt den Stücktitel "Inventur", gemeint ist das gleiche Stück.

Karlheinz Essl: Es gab vor einem Jahr anläßlich der Feierlichkeiten zum 50jährigem Bestehen der 2. Republik die Idee, ein großes Fest im Parlament zu machen, den sog. Parlamentstag, aus dem das österreichische Radio (das Programm Ö1) den ganzen Tag aus dem Parlament Programm machen wollte. Unter anderem sollte das Radio Symphonieorchester Wien ein Konzert in der Säulenhalle geben. Die Säulenhalle ist ein neoklassizistischer Marmorsaal enormen Ausmaßes, mit einer Nachhallzeit von 12 Sekunden. Ein Raum, der sich zu allem eignet, nur nicht für Musik im herkömmlichen Sinn. Frau Dr. Seebohm [die damalige Musikintendantin von Ö1] hat mir aus diesem Anlaß einen Auftrag für ein Orchesterstück gegeben. Nachdem ich mir diesen Raum angesehen hatte, ist mir klar geworden, daß man kein herkömmliches Stück für diesen Raum schreiben kann, sondern man müßte ein Werk komponieren, das den Raum als Instrument benutzt. Und da kam mir die Idee, daß man das Orchester nun nicht frontal von vorn spielen läßt, sondern es in einzelnen Teile aufspaltet, und diese in den vier Ecken des Raum positioniert.

CS: Wobei aber in Deiner bisherigen Arbeit die Idee, mit Raum zu arbeiten, eigentlich schon Vorläufer hat. Es ist ja nicht so, daß Du erst in diesem Stück mit solchen Konzepten operierst.

KHE: Richtig. Der Raum ist seit den späten 80er Jahren für mich ein wichtiges Thema. Nicht ganz unwesentlich dafür waren sicherlich auch die Diskussionen, die ich mit Dir zur gleichen Zeit geführt hatte, weil Du Dich auch in Deiner Magisterarbeit mit diesem Themenkomplex beschäftigt hast. Und sicherlich auch die Auseinandersetzung mit dem Stockhausen der späten 50er Jahre (v.a. "Gruppen" und "Carré"). Konzepte also, die den Raum nicht bloß als etwas Oberflächliches auffassen, also bloß als Medium, sondern als Instrument. Das hat mich gerade im Fall von Stockhausen sehr beeindruckt, daß er mit den "Gruppen" nicht nur räumlich differenzierte Klangquellen benutzt, sondern dadurch auch Hyperstrukturen schafft, die einen mehrdimensionalen Klang im Raum entstehen lassen, der sich ständig verändert. Der Zuhörer, der sich inmitten dieser Klänge benfindet, wird so zum Mitschöpfer: er vollzieht sozusagen im Hören die Synthese der einzelnen Klangquellen.

CS: Wobei diese Stück ja immer unvermeidlich mit sich bringen, daß es den einen Ort, an dem das Stück am besten klingt, wirklich nie gibt.

KHE: Aber das ist eigentlich kein Problem. Meine Erfahrung mit den "Gruppen" von Stockhausen, die ich schon mehrmals gehört habe, ist die, daß man natürlich nicht erwarten kann, das Stück in der einen Form zu hören. Aber diesen Anspruch habe ich gar nicht. Für mich ist das Hören ein aktiver Vorgang, wo ich jetzt nicht den einen Punkt brauche, an dem man das Stück am optimalsten hört, sondern daß an jedem Ort, wo ich mich befinde, eine bestimmte Konstellation des Gesamtklanges zu hören ist, die genauso gut ist wo anderswo. Was mich als Hörer wiederum herausfordert, selbst im Hören aktiv zu werden.

CS: Wobei ja die Tatsache, daß es den einen Punkt nicht mehr gibt, ein ganz essentieller Aspekt dieser Ästhetik ist. Nicht ein Nachteil, den man in Kauf nimmt, sondern ein Vorteil. - Kommen wir nun zurück zum Parlamentssaal als Anreger dieses Stücks.

KHE: Bevor ich der Frau Dr. Seebohm meine Zusage gegeben habe, bin ich in die Säulenhalle gegangen und habe dort mit meinem kleinen Sohn (der damals eineinhalb Jahre alt war) einen ganzen Nachmittag verbracht. Er ist dort herumgelaufen, hat gejuchzt und gequietscht. Dieser unglaubliche Hall hat ihm sehr gefallen. Er war für mich ein toller Impulsgeber. Ich bin in den verschiedenen Ecken des Saales gestanden, der Marian hat herumgetollt, und ich konnte mir recht gut vorstellen, was hier mit den Klängen passieren könnte. Es entsteht hier ja nicht nur ein Hall (der die Klänge lange im Raum stehen läßt), sondern auch unglaubliche Raumresonanzen, die wiederum eigene Qualitäten entwickeln.

Mit diesen Eindrücken bin ich nach Hause gefahren und habe mir darauf ein Konzept für ein Stück überlegt.

Das Fest in der Säulenhalle hätte ursprünglich unter dem Motto "Inventur" stattfinden sollen; 50 Jahre Österreich: was ist in der Zwischenzeit passiert? Eine Art von Bestandsaufnahme, die aber nicht nur retrospektiv ist, sondern auch in die Zukunft schaut. Und das war für mich persönlich auch ein schönes Motto, weil ich in diesem Stück auch für mich selbst so eine Art Inventur ziehen wollte. Zurückzuschauen auf das, was ich in den letzten 10 Jahren komponiert hatte, und aus dieser Rückschau eine ganz einfache Formulierung zu finden. Eine Musik, die unter dem Wurzelgrund komplex ist, aber nach außen ganz einfach und faßlich wird. Und dieser besondere Raum mit seinem enormen Nachhall hat dies auch zugelassen. Jeden Klang, den man dort hineinschickt, hat unglaubliche Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Musik. Und das bedarf einer völlig neuen Art des Schreibens.

CS: Bevor wir noch auf das Klanglich weiter eingehen, und die kompositorische Konsequenz, die es mit sich bringt, kehren wir noch einmal zurück zu jenem Anlaß, der zwar Anlaß war, aber als Ereignis nie stattgefunden hat.

KHE: Das war eine sehr, sehr traurige Geschichte. Normalerweise schreibt man ja nicht für einen speziellen Raum, sondern eher für eine bestimmte Konstellation, die man in verschiedenen Räumen realisieren kann. Aber in diesem Fall habe ich wirklich ganz speziell auf diesen Raum mit diesen charakteristischen akustischen Eigenschaften Bezug genommen und dafür ein Stück komponiert.

Nun war es damals leider so, daß die Bugetverhandlungen der Bundesregierung gescheitert sind, und daraufhin das Parlament aufgelöst wurde. Es gab da plötzlich nichts mehr zu feiern. Das geplante Fest hätte ursprünglich auf Mitte März [1996] verschoben werden sollen. Aber dann gab es dann die nächste Regierungskrise, und infolge dessen ist das Fest einfach ausgefallen. Ich habe daraufhin dem Nationalratspräsidenten Fischer einen Brief geschrieben, ihn von diesen Problemen erzählt und ihn gebeten, sich dafür einzusetzen, daß mein Stück doch irgendwann einmal in dem Raum aufgeführt wird, für den es konzipiert worden ist. Es hat mich sehr traurig gemacht, daß der Herr Dr. Fischer nicht geantwortet und meinen Brief offentsichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat.

Jetzt kam mir aber wiederum der ORF entgegen und hat mir angeboten, stattdessen eine Studioproduktion mit diesem Stück zu machen, wo wir den Hallraum elektronisch simuliert haben. Und das passiert auch bei dem heutigen Konzert in dem Großen Saal des Wiener Konzerthauses, der eine normale Nachhallzeit von ca. 3 Sekunden hat, aber nicht diese Qualitäten der Säulenhalle des Parlaments aufweist. Und wieder ist es die Elektronik, die es uns ermöglicht, einen ähnlichen Ausdruck zu finden.

CS: Wie kam man sich das nun vorstellen: welche Klangaspekte werden nun (abgesehen vom Orchester, daß hier im Konzerthaus an vier Stellen verteilt spielt, also nicht auf der Bühne sitzt) von der Elektronik beeinflußt?

KHE: Wir haben hier mit elektronischen Mittel die Akustik der Säulenhalle mit ihren räumlichen Dimensionen und ihrem Resonanzverhalten nachgebildet. Die Orchestergruppen werden mit Mikrophonen aufgenommen und in Echtzeit durch einen speziellen Hallprozessor schicken. Nur kann man dies nicht automatisch machen, sondern man muß die verschiedenen Signale am Mischpult abstimmen, damit zuletzt ein sauberes und schönes Ergebnis herauskommt.

CS: Das heißt beim Konzert ist es eigentlich ein Stück für Orchester und Live-Elektronik.

KHE: Es ist eigentlich zu so etwas geworden. Wenn mehr Zeit zur Verfügung gestanden wäre, hätte man sicher eine Computersteuerung bauen können, die diesen Hallraum noch flexibler gemacht hätte. Ein interessantes Projekt: was jetzt eine fast ikonenhafte Gestaltung des Raumes ist, wird variable und fluide. Es könnte in die gleiche Richtung gehen, die Pierre Boulez mit seinem Werk "Repons" verfolgt. Und dies wäre mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln auch durchaus zu realisieren.

CS: Sprechen wir nochmals über die kompositorischen Grundlagen. Du hast vorhin gesagt, daß war dann ein Stück, bei dem, aufbauend auf jener Komplexität von Grundstrukturen (die man auch aus anderen Stücken von Dir kennt), zuletzt aber eine relative einfache und klare Struktur am Ende entsteht. Das ist ja etwas relativ Neues. Die meisten Stücke von Dir klingen - wenn man jetzt die Chiffre mit der Oberfläche beibehält - auch komplex, sie verbergen ihre Komplexität nicht. In diesem Fall ist es ja anders, eine ganz andere Zielsetzung des Komponierens.

KHE: Es ist nun so, daß sich die Komplexität durch diesen Raum irgendwie umdreht. Die feine Oberflächenstukturierung tritt in diesem Fall nicht als solche in Erscheinung, sondern transformiert sich sofort in einen klanglichen Aspekt, der mit anderen klanglichen Aspekten zusammenfällt und in einen komplexen Klang mündet, der aber von seinem Ausklingverhalten so natürlich ist, daß er wiederum fast als naturhaft erlebt wird. Wir brauchen also gar nicht viel dazu tun: wenn man in einem großen Raum mit dem Finger schnippt, dann klingt der Raum von sich aus mit eine bestimmten logarithmischen Funktion aus. Und weil es mit unseren internalisierten Bewußtseinsmuster kompatibel ist, empfinden wir das als etwas Selbstverständliches. Und etwas ähnliches passiert hier mit der Musik auch, daß diese zwar an ihrer Oberfläche sehr rauh, sehr strukturiert und komplex ist, aber durch die Überformung des Raumes eine neue Qualität und Unmittelbarkeit bekommt, wobei nun die Feinstruktur in die Qualität des Klanges einwirkt. Der Klang ist jetzt nicht bloß ein nackter Ausklang, sondern bekommt zusätzlich klangliche Qualitäten, die ihn reich und reizvoll machen.

CS: Was nun aber ein kategorisch anderes Arbeiten ist. Das Verklingen als solches bzw. wie Töne verklingen ist ja die Essenz dessen, worum es bei Musik geht: jeder Klang verschwindet.

KHE: Und normalerweiser ist es ja die Absicht eines Komponisten, dem etwas entgegenzusetzen. Zu sagen: "Hier bin ich!". Aber in diesem Fall ist es genau umgekehrt durch diese wunderbare Inspiration, die aus diesem Raum gekommen ist. Weil man hier mit jeder Setzung auch ein Verlöschen auslöst. Und diesem Verlöschen auch nachgibt. Und sich da auch hineinfügt: das ist fast etwas Metaphysisches, etwas wie Sterben. In sehr positiver Weise.

CS: Dieses Stück firmiert nun aber nicht unter dem Titel "Inventur", sondern als "Intervention".

KHE: Dieses Fest [der geplante "Parlamentstag"] war schon vorbereitet, als seinem Erfinden [dem Hörfunkintendanten Weiss] sein ursprünglicher Titel "Inventur" nicht mehr gefiel. Er fand ihn zu retrospektiv, zu negativ, und irgendwann war es soweit, daß ich mir gesagt habe: Okay, wenn's denn sein muß, dann werde ich diesen Interventionen nachgeben. Und habe das Stück demnach "Intervention" genannt. Es gab allerdings auch einen zweiten Bezug, weil das Stück ja im Parlament stattfindet, und diese vier Orchestergruppen durchaus als widerstreitende Parteien gesehen werden können, die sich auch immer wieder finden. Die zwar verschiedener Meinung sind, aber dann Koalitionen bilden, im Gleichklang daherkommen, sich wieder entfernen.

Den Titel selbst habe ich zufällig beim Zeitunglesen gefunden: Ich hatte gerade über den neuen Titel nachgegrübelt, als ich im STANDARD ein Bild von Heinz Fischer [dem ersten Nationalratspräsidenten] sah, und unter dem Photo stand: "Intervention". Da wußte ich: das ist der Titel des Stückes.

CS: Auch wenn dieses Stück jetzt "Intervention" heisst, wir haben vorher gehört, daß der Titel "Inventur" nicht nur einen offiziellen, sondern einen auch ganz persönlichen Hintergrund hatte, nämlich eben nicht nur eine Art retrospektive Vorstellung des Wortes "Inventur", sondern auch eine, die nach vorne weißt, in die Zukunft... Inwiefern war beim Komponieren dieses Stücks der Blick in eine eigene kompositorische Zukunft gerichtet?

KHE: Nun, das ist eine Frage, die man nur schwer beantworten kann, weil man die Zusammenhänge erst im Nachhinhein erkennen kann. Aber ich befand mich zu jener Zeit in einer Lebenssituation, wo ich mich in vielen Aspekten meines Lebens - nicht nur den kompositorischen - entscheiden mußte für eine neue Haltung. Insofern hat es mir dieser Raum mit seinem Reichtum, der so viel anbietet, geholfen, mich in ihn hinein fallen zu lassen. Nicht selbst alles bewirken zu wollen und jedes kleinste Detail zu verantworten, sondern sich dem hingeben, was nicht kontrollierbar ist, was etwas von sich aus anbietet, und dem man einfach nachgibt. Das heißt jetzt nicht ins Leere hineinzureden und sich am Echo zu delektieren, sondern dieses Echo wiederum aufzunehmen und in sich wirken zu lassen, und als neues Echo wieder zurückzuwerfen. Diese Art der Interaktion mit dem Unbestimmten, Unbekannten, das Einlassen auf neue Situationen, das war für mich ein Zukunftsaspekt.


Gesendet am 8. November 1996 im Radioprogramm Ö1 ("Im Konzert")



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Updated: 20 Jan 2022

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