Karlheinz Essl

Portrait KHE

Improvisation als Rettung

Karlheinz Essl im Gespräch mit Astrid Rieder
Salzburg-Wals @ Atelier Astrid Rieder, 10. April 2025

Erstsendung: Radio FRO 28.4.2025


Im Gespräch mit der trans-Art Künstlerin Astrid Rieder spricht Karlheinz Essl über die Zeit, „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), über die Dialektik von Gemütlichkeit und Unbequemlichkeit in der kollektiven Performance und die Improvisation als Rettung. Nach langjähriger Erfahrung mit digitalen Werkzeugen experimentiert Karlheinz Essl seit einiger Zeit mit einem hochempfindlichen analogen modularen Synthesizer namens 0-COAST, den er in Interaktion mit der Zeichnerin und trans-Art Performerin Astrid Rieder allein aus den Schwingungen des Geräts zum Klingen bringt.


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Astrid Rieder: Lieber Karlheinz, du warst zuletzt im Jahr 2023 zu Gast hier im Atelier. Was hat sich seitdem musikalisch, künstlerisch oder auch sonst bei dir getan?

Karlheinz Essl: Ich glaube, als ich das letzte Mal bei dir war, habe ich ganz neu mit analogen Klangerzeugern gearbeitet. Weil ich einmal raus wollte aus diesem Computersoftware-digitalen Tune, das ich eben so ein Jahrzehntelang betrieben habe. Und ich bin heute wieder mit dem mehr oder weniger dem gleichen Instrument da, mit einer ganz kleinen Erweiterung des Setups. Weil ich draufgekommen bin, nach so vielen Jahren des Arbeitens mit diesem Modularsynthesizer, dass ich das immer noch nicht ausgereizt habe. Im Laufe der Jahre habe ich mir durch verschiedene, sehr viele Performances, die ich gemacht habe und auch mit einer Band, die sich letztlich über die Astrid gefunden hat, Mindfuck, haben sich ganz viele neue Zugänge ergeben zu dem Instrument. Und zwar eine sehr gestische, unmittelbare, spontane Möglichkeit des Spielens und Improvisierens.

AR: Also es ist heute eigentlich sozusagen Next Level...

KHE: 2023, da war noch alles relativ frisch und ganz neu. Und da habe ich vieles noch gar nicht so richtig verstanden, was ich da eigentlich mache. Und mittlerweile habe ich einfach einen Umgang entwickelt und eine unglaubliche Freiheit gewonnen. Ich habe in den letzten Monaten mich mit anderen Analogsynthesizern bestäftigt. Ich habe mir so eigene sogenannte Euroracks gebaut und damit auch verschiedene Konzerte gespielt, meistens im Duo mit anderen Elektronikern. Ich habe mich dann aber entschieden, für diese Performance wieder mit meinem O-Coast anzutanzen, weil ich mich damit am besten ausdrücken kann.

AR: Am dritten Summit of transArt, der im Oktober 2024 zum Thema Zeit stattfand, hat die Vokalistin und Improvisatorin Annette Giesriegl in einem Vortrag zum Thema Zeit und Improvisation gehalten. Sie hat darin unter anderem Aussagen von dir über die Zeit zitiert. Zwei davon möchte ich kurz vorlesen:
"... dass die Zeit zwar nach vorne abläuft, aber im Improvisieren immer wieder der Versuch unternommen wird, ganz bewusst auf das zu rekurrieren, was schon gewesen ist, um damit Anknüpfungsstellen zu schaffen."
Oder: "Wenn man ohne Absprachen miteinander improvisiert, kann sich, wenn das Ganze funktioniert, eine gemeinsame Zeiterfahrung einstellen. Die Kunst ist es nun, ohne verbale Verständigung zu einer solchen gemeinsamen Zeitwahrnehmung zu gelangen."
Welche Rolle spielt die Zeit in deiner musikalischen Arbeit als Komponist und als Improvisator?

KHE: Die Zeit ist in der Musik der wichtigste Parameter überhaupt. Denn alles, was in der Musik passiert, ob das jetzt formale Verläufe sind, Rhythmen, aber auch Spektren und Frequenzen und Töne, sind nichts anderes als Schwingungen auf verschiedenen Skalierungen. Also eine Frequenz von 440 Hertz, also 400 Schwingungen pro Sekunde, erzeugt den Ton A. Und wenn ich den jetzt sozusagen heruntertransponiere, kann ich aus diesen Frequenzen, wenn ich die zum Beispiel auf, ich weiß nicht, 20 Hertz heruntermache, dann habe ich eine Pulsation, ein Tremolo von 20 Schlägen oder Schwingungen pro Sekunde, und wenn das weiter runtergeht, wird das dann kein Ton mehr, kein tiefer Ton, sondern wird dann ein Rhythmus. Und aus diesen verschiedenen Teilaspekten der Zeit, auf verschiedenen Höhenstufen sozusagen, entsteht dann letztlich die Musik. Dieses Zeitkonzept hat Karlheinz Stockhausen in einem ganz wichtigen Aufsatz 1957 "Wie die Zeit vergeht" genau beschrieben. Und das ist für mich immer noch ein ganz wichtiger, theoretischer Grundsatz, den ich auch beim Komponieren natürlich intuitiv verwende.

Auch die Art, wie man mit Zeit umgeht. Also, dass Zeit auch ein logarithmischer Prozess ist, genauso wie viele Vorgänge in unserem Körper auch beim Hören logarithmisch sind. Also da gibt es eine gewisse Naturgesetzlichkeit, die man jetzt gar nicht unbedingt wissenschaftlich reflektieren muss, aber die einfach uns hilft beim Komponieren. Und jetzt, wenn ich mit diesen Modularsynthesizern arbeite, die ja so ganz offene Systeme sind, wo elektrische Ströme und Steuerspannungen miteinander moduliert werden, kommt die Zeit natürlich jetzt auch wieder in einer anderen Form als Schwingungen von Strom zum Ausdruck und entsteht auch letztlich Klang.

AR: Also, das ist ja in unserer Performance, ist ja die Zeit wirklich das einzig Gemeinsame, das wir haben in dieser 40-minütigen Performance. Und dazu möchte ich noch eine zweite Frage hinzufügen. Wie kann man eine gemeinsame Zeiterfahrung überhaupt ausführen? Wie kann sie gelingen?

KHE: Dazu gibt es verschiedene Konzepte. Man kann das vorstrukturieren, indem man sich sozusagen eine Art Ablaufplan macht, den man mit Uhren kontrolliert. Das ist eine Möglichkeit. Allerdings beim Reproduzieren habe ich das nicht gern. Ich mag auch keine Absprachen und ich mag überhaupt keine Uhren oder Metronome. Das einzige, was wir machen können, ist, dass wir uns miteinander in Verbindung setzen. Also, ich habe das aus der Tanz-Performance, da heißt dieses Tun "connecten". Man connectet sich, man verbindet sich auf einer spirituellen, mentalen Ebene und erzeugt damit einen gemeinsamen Energieraum, indem man sich dann auch bewegt. Und diese Zeitwahrnehmung entsteht letztlich über so eine spirituelle Verbindung. Da braucht man gar nicht viel reden, sondern die Zeit entsteht und sie verendet sich auch im gemeinsamen Tun.

AR: Ja, also bei uns steht auch schon eine Uhr heute. Eine neue, damit auch das Publikum sieht, wie die Zeit vergeht. KHE: Da gibt es diesen berühmten ein Aufsatz von Karlheinz Stockhausen ...wie die Zeit vergeht... ich finde es auch gut, wenn man sich so einen Zeitrahmen steckt, weil du hast natürlich auch eine Begrenzung aufgrund der Leinwand.

AR: Also schon eine große Begrenzung.

KHE: Also ich könnte natürlich auch drei Stunden spielen, wenn ich das körperlich durchhalte, aber irgendwann ist ja das Platz voll und wenn du dann weiterarbeitest, wird es einfach nur schwarz. Und das wollen wir ja nicht.

AR: Dichter und dichter...

KHE: Ja, und wenn man das jetzt übertreibt und jetzt tagelang das macht, wird irgendwann einmal eine texturierte Fläche, wo man nichts mehr sieht.

AR: Ich würde auch glauben, dass die papierene Leinwand mit 200 Gramm pro Quadratmeter es nicht aushält.

KHE: Insofern sind wir einfach aufgrund unserer Leiblichkeit und Physikalität der Materialien, mit denen wir arbeiten, auch zeitlich beschränkt. Und deswegen finde ich es eh gut, wenn man sagt 40 Minuten. Also wenn ich mit meiner Band spiele, dann sagen wir immer, wir spielen jetzt ein Set: etwa 45 Minuten, plus minus.

AR: Dann spielen wir ein Set!

KHE: Weil das ist eine Zeit, die kann man noch ganz gut überblicken. Und ich glaube, die kann man auch so strukturieren, dass da verschiedene dramaturgische oder dramatische Höhepunkte oder Entwicklungen passieren.

AR: In einem Gespräch über Improvisation mit Jack Hauser, das man auf deiner Website nachlesen kann, sprichst du über das Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit in der Improvisation. Von der Notwendigkeit, die durch die Zufälligkeit der Begegnung entsteht. Könntest du ein wenig mehr über diese beiden Aspekte und ihr Verhältnis zueinander sprechen?

KHE: Dieses Begriffspaar "Zufall und Notwendigkeit" stammt von dem Biologen Jacques Monod, der in den 1960er-Jahren die Dichotomie von Ordnenden und dem Chaotischen untersucht hat und festgestellt hat, dass biologische Prozesse einerseits gewissermaßen geordnet ablaufen, aber auch des Zufalls bedürfen, um am Leben zu bleiben. Der Zufall ist quasi eine Art Ferment, das uns als Lebewesen immer wieder auch neue Wege weist und uns auch verändert.

AR: Also Zufall ist etwas durchaus Positives und mit Zufall kann man ja auch gezielt arbeiten.

KHE: Man kann den Zufall natürlich ausblenden und sagen, ich möchte jetzt alles kontrollieren, aber viel Interessanteres ist, wenn man ihn einfach zulässt und wenn man dann auch so frei ist, dass man darauf reagiert und ihn als Angebot annimmt. Und ich glaube, das ist beim Improvisieren eigentlich das Um und Auf, besonders beim freien Improvisieren. Also wenn man jetzt nicht regelbasiert oder formbasiert improvisiert, sondern sozusagen aus dem Moment heraus etwas Gemeinsames schafft, dass man sich aufeinander einlässt. Das, was zufällig, das heißt nicht vorgesehen oder kontrolliert passiert, dass ich das als Anregung, als Dialogmöglichkeit nehme und auf das reagiere und damit auch einen gemeinsamen Weg gehe.

Nichts ist schlimmer, als mit Leuten zu improvisieren, die auf einer Schiene sind und überhaupt nicht runterkommen. Die gar nicht mehr zuhören, sondern nur ihr Ding abziehen. Wenn man aber wirklich offen ist, die Ohren aufmacht und vor allem auch das Herz - das ist wohl das wichtigste Organ - dann kann durch man mit dem Zufälligen, das wir weder voraussehen noch kontrollieren können, unglaublich kreative arbeiten.

Ich sage immer, der Zufall ist ein Ferment, das uns hilft, dass der Teig, den wir da gemeinsam backen, auch aufgeht, und knusprig und schmackhaft wird.

AR: Ja, das ist ein schönes Bild. Was bedeutet es für dich, Solo zu improvisieren und was bedeutet es im Kollektiv, das heißt in Kollaboration zu improvisieren?

KHE: Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Solo mit sich selbst zu improvisieren ist irgendwie sehr absurd, weil ich immer ein Gegenüber brauche. Deswegen suche ich mir Instrumente, heute eben diesen modularen Synthesizer, die ein nicht von mir komplett durchschaubares Eigenleben haben. Ich baue meistens chaotische Systeme, die oszillieren und immer wieder zu sogenannten Attraktoren führen, wo sich bestimmte Schwingungsformen überlagern und plötzlich zu Ordnungen werden. Und diese Ordnungen können mit dem Flügelschlager eines Schmetterlings sofort wieder zerstört werden und das ganze System bricht auseinander. Und wenn ich mit so einem chaotischen System arbeite, ist das natürlich großartig. Das ist, wie wenn ich auf einem wild gewordenen Pferd reite und versuche im Sattel zu bleiben.

Ich brauche immer einen Reibepunkt oder eine Art Gegenüber. Das kann auch ein Computerprogramm sein, das ich selbst geschrieben habe, oder eben ein selbst zusammengestelltes Modularsystem. Sonst kann ich nicht improvisieren. Denn wenn ich das alles weiß, was ich tue - wenn ich etwa Klavier improvisiere - dann wäre das für mich weniger lustig als mit so einem System, was mir so viel mehr Widerstände entgegenbringt. Wenn ich jetzt aber mit jemand anderem improvisiere, schaut das völlig anders aus. In dem Moment, wo man mit Musikern improvisiert, bewegen wir uns doch auf der gleichen Ebene von Klang.

Aber was mache ich, wenn ich mit der Astrid Rieder improvisiere? Sie arbeitet auf einer ganz anderen Ebene, nämlich der Ebene des Gestischen und Zeichneriscehn, wo zuletzt ein Bild entsteht. Dann ist natürlich eine völlig andere Ansatz. Ich finde es wichtig, dass ihre Bewegungen und die Geräusche, die entstehen, wenn sie auf der Leinwand mit ihren Stiften herumwütet, dass man die auch hört. Und die klingen oft wirklich sehr musikalisch, fast so wie Schlagzeug. Das ist für mich ein schöner Anknüpfungspunkt. Das heißt, ich lasse mich einerseits von ihrer gestischen Performance inspirieren, aber auch von ihrem visuellen Gestalten und nicht zuletzt auch von den Klängen, die sie mit ihren Schreibgeräten produziert.

AR: Du sprichst im Gespräch mit Jack Hauser auch von einem Zustand der gegenseitigen Zufriedenheit und Gemütlichkeit in der kollektiven Improvisation, der zwar schön sein kann, aber auch gefährlich, wie du sagst, weil darin alles erstarrt. Wie bewegt sich kollektives Improvisieren für dich zwischen Zuständen der Gemütlichkeit und des Unbequemen?

KHE: Ich glaube, dass beide Verhaltensweisen gleichermaßen da sein müssen. Nur darf man nicht in einem Bereich verharren. Der Zustand des Wohlgefallens, wo man sich gegenseitig unterstützt und alles einfach schön ist und organisch und alles ineinander greift, kann wirklich toll sein. Doch wenn man aus diesem Zustand nicht herauskommt, wird es einfach kitschig. Andererseits kann das ständige Ausbrechen auch unglaublich nervig sein, wenn sich nichts mehr entwickelt, sondern nur mehr ein wildes Herumtoben ist. Ich finde es immer schön, wenn man dialektisch denkt, also nicht in Gegensätzen, sondern in der Vermittlung von Gegensätzen. Und wenn man sich zwischen diesen verschiedenen Extrempunkten ganz frei hin- und her bewegt.

AR: Ja, das kann doch auch für das Leben ganz gut sein, oder?

KHE: Das Improvisieren ist ja nicht etwas, was vom Leben abgekoppelt ist, sondern es ist einfach nur eine künstlerische Überhöhung, wenn man so will. Und ich glaube, dass wir auch da sehr viel für unser tägliches Leben oder auch für das politische Leben lernen können. Und mit nach Hause nehmen können aus dieser Performance, finde ich.

AR: Du improvisierst in verschiedenen Kontexten und Konstellationen. Welche Rolle spielt dabei das Persönliche? Oder vielleicht auch so etwas wie Vertrauen und Bekanntschaft? Ist für dich ein großer Unterschied zwischen dem Improvisieren mit weitgehend Fremden und dem Improvisieren mit Kolleg:innen, die du bereits kennst?

KHE: Ich habe Ende der 1990er Jahren begonnen, mit Leuten zu improvisieren, die ich oft nicht näher kannte. Ich nannte das "Blind Gig". Das ist wie ein Blind Date. Man lädt sich auf jemanden ein, geht dann auf die Bühne und es entsteht etwas, von dem man überhaupt nicht weiß, wo das hinführt. Und ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals wirklich in die Hose gegangen ist. Es war eigentlich immer sehr besondere Situationen mit tollen Performances. Aber was wichtig ist: wir haben zwar nicht miteinander geprobt, aber wir haben uns irgendwie doch connected. Also, was habe ich gemacht? Ich war mit Leuten schwimmen, Radfahren, Spazieren gehen oder wir sind nur im Studio gesessen und haben einen Tee getrunken: eine gemeinsame Aktiviutät, die uns auf einer anderen Ebene zusammenbringt. Und dann kann man vor das Publikum treten und alles loslassen und aus dem heraus etwas Gemeinsames im Moment erschaffen.

Das Zweite, ich habe zehn Jahre lang mit der Astrid Heginger ein Improvisations-Duo gehabt für Stimme und Elektronik - und da haben wir auch nie geprobt. Wir haben nur Live-Konzerte gespielt. Das war toll, weil wir uns in diesen zehn Jahren musikalisch sehr gut kennengelernt haben und es dann so weit gekommen sind, dass wir auf der Bühne im Grunde richtige Stücke improvisiert haben. Die Leute haben gar nicht geglaubt, dass das vollkommen frei improvisiert ist. Agnes hat immer Texte mitgebracht, die sie als Basis verwendet hat, aber die vorher nicht kannt. Ich habe mich dann mit ihr sozusagen "connected" und auf ihre Stimme reagiert, sie hat auf meine Klänge reagiert und dadurch sind wirklich sehr schöne Stücke entstanden, die wir überhaupt nicht vorher besprochen haben. Beide Wege finde ich interessant. Wenn man sich näher kennt, kommt man zu anderen Lösungen, als wenn man ganz spontan bei der ersten Begegnung miteinander arbeitet.

AR: Ich war jetzt in Wien im "Beers in the Park" beim Gasometer. Das ist ein Tanzstudio wo zwei Frauen eine Tanzperformance gemacht, indem die beiden Figuren ineinander geflossen sind. Im Hintergrund haben sei ein klassisches Musikstück abgespielt. Ich habe sie nachher gefragt, ob sie das fest geübt haben oder ob das Improvisation ist. Da haben die beide doch wirklich gesagt, das war reine Improvisation. Für mich als Laien war das ist wunderbar, wie da eine Bewegung in die andere geflossen ist.

KHE: Ja, das kann manchaml wirklich magisch sein! Allerdings setzt das Einiges voraus. Man braucht eine unglaubliche Technik. Das Grundlegende beim Improvisieren ist, dass man sein Metier völlig beherrscht, dass man gar nicht nachdenken muss, dass man das vollkommen aus dem Bauch heraus machen kann, ohne dass man irgendwelche Konzepte abspult. Und gerade bei Tänzern, die arbeiten auch viel mit so einem gewissen Bewegungsrepertoire und bestimmten Techniken, wie man sich ineinander einfädelt. Dafür gibt es eigenen Tanzmethode - "Contact" - wo man das auch wirklich lernt und studieren kann. Und wenn man das drauf hat, kann man sich auf sowas einlassen und damit etwas gestalten. Aber man muss einfach unglaublich fit sein!

AR: Manche Leute glauben, Improvisieren, das kann eh jeder. KHE: Ich meine, das ist die höchste Kunst, die es gibt!

AR: Bitte sagt das laut! Weil ich schon an höchster Stelle in Deutschland, ich mag nichts Genaueres erzählen, einen Vortrag über Improvisation gehalten habe im Kreise von Komponisten, wo die Improvisation - wie man in Salzburg sagen würde, "auf der Hintenscheiben angestellt war". Ich glaube aber, das in der heutigen Zeit die Improvisation eine größere Bedeutung bekommt. Wie siehst du das?

KHE: Das ist ein Prozess, der schon seit mindestens 70 Jahren passiert. Wenn man mich fragt, was ich bin, hätte ich früher gesagt, ich sei Komponist. Heute aber bezeichne ich mich als ich Composer / Performer / Improviser. Das Improvisieren habe ich früher als Jugendlicher, als ich Rockmusik und später Jazz gespielt habe, sehr viel betrieben. Das habe ich aber später zugunsten meines Kompositionsstudiums aufgegeben und das dann zehn Jahre lang nicht gemacht. Und dann war ich plötzlich irgendwie sehr unglücklich über den Zustand, dass ich an meinem Schreibtisch komplizierte Orchesterpartituren verfertige, die ein oder zwei Mal gespielt werden. Und danach habe ich mir gedacht, was soll das? Ist das wirklich alles? Und dann habe ich mich erinnert, wie beglückend es war, wenn ich früher als Improvisator auf der Bühne stand und mit anderen etwas Gemeinsames macht und nicht so alleine war. Improvisation wurde dann letztlich meine Rettung.

AR: Und das Publikum? Welche Rolle spielt das Publikum dabei für dich? Ist Improvisation ohne Zeugen nur ein Game?

KHE: Ich finde das Publikum ist ganz wichtig. Ich mache sehr viele Studio-Improvisationen, die ich für YouTube aufnehme und dann auf meinem Channel verteile, um zu zeigen, was ich mit meinen modular-analogen Gerätschaften so alles tue. Das passiert aber immer in splendid isolation in meinem Studio. Aber wenn ich das jetzt live mache, ist das viel besser. Weil ich dann nicht nur an mich denke und an den Synthesizer, der mir Widerstände gibt, sondern ich natürlich auch die Energie spüren von den Menschen, die mir zuhören und mit denen ich mich verbinden (verbünden) versuche. Das Publikum ist wie ein Partner. Also einerseits die Elektronik, das Hören, das Publikum und dann, wenn andere Musiker oder Künstler mitmachen, kommt auch eine dritte Ebene dazu. Daraus bildet sich ein interessantes Feld an Möglichkeiten, in dem man sich frei bewegen kann.


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Updated: 4 May 2025

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