Universität Wien, SkyLounge
22 Jan 2016
OMNIA IN OMNIBUS: Behind the Scenes
Karlheinz Essl im Gespräch mit Katharina Hötzenecker
SkyLounge, 22 Jan 2016
Karlheinz Essl: Das war lustigerweise nicht die Klassik, sondern ich habe mich in meiner Pubertät sehr für Rockmusik interessiert. Dabei aber nicht für den Mainstream, sondern eher für sehr avantgardistische Ausformungen, die vor allem in Deutschland beheimatet waren. Krautrock und CAN zum Beispiel. Das hat mich damals unglaublich inspiriert. Das Interessante war, dass diese Musiker teilweise bei Karlheinz Stockhausen in den Sommerkursen in Darmstadt waren. Das hat mich auf den Namen Stockhausen gebracht. Ich bin dann in die Bücherei in der Skodagasse gegangen und habe mir die Platte „Kontakte“ von Stockhausen ausgeborgt. Ich habe gar keine Ahnung gehabt, was das für eine Art von Musik ist. Zuhause habe ich mir Kopfhörer aufgesetzt und mir die Platte angehört. Ich war total schockiert. Das war für mich damals ganz grauenhafte Musik, aber es hat mich gepackt. Ich habe mir die Platte dann gekauft. Ich habe gewusst, jetzt habe ich 160 Schilling für eine Schallplatte ausgegeben, jetzt muss mir die Platte auch gefallen. Und damit einem die Platte auch gefällt, muss man sie oft hören. Ich habe sie dann sehr oft gehört. Und wenn man etwas oft hört oder besucht oder erlebt, dann gefällt es einem auch. Das ist ja nicht nur bei der Musik so, sondern auch unter Menschen. Dass einem Menschen auch lieb werden, wenn man sie einfach oft trifft. Das war bei dieser Musik sehr ähnlich, das hat mich sehr inspiriert. Dann habe ich gemerkt, dass dieser Herr Stockhausen ja nicht nur tolle Musik, sondern auch ziemlich kluge Sachen schreibt. In der Bibliothek gab es damals drei Bände seiner bei Dumont erschienen Texte und die habe ich mir alle ausgeborgt. Ich hatte einen Freund, der ähnlich affin war wie ich, und wir haben uns die Bücher immer wechselweise ausgeborgt, damit sie immer in unserem Besitz sind. Das ging über vier oder fünf Jahre. Dadurch habe ich gemerkt, dass hinter der Musik so viel Anderes steckt, so vieles an theoretischem Denken und mathematischen Konzepten. Das hat mich letztlich dann dazu gebracht, nach der Schule nicht Jus, sondern Musikwissenschaft und Komposition zu studieren. Danach bin ich von Stockhausen auf Anton Webern gekommen, der dann auch mein Dissertationsthema war.
Essl: Da möchte ich jetzt zurück in das neunte Jahrhundert gehen. Der arabische Mathematiker Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi, hat damals die arabischen Zahlen nach Europa gebracht und uns erstmals befähigt Algebra zu betreiben. Sein Name ist auch heute noch in aller Munde, weil wir ja immer noch über Algorithmen sprechen. Dieser Begriff hat nichts mit Rhythmen zu tun, sondern ist nach diesem Mathematiker al-Chwarizmi benannt, der verschiedene mathematische Konzepte eingeführt hat. Diese sind auch die Grundlage meines Musikdenkens, Musik nicht nur als ein sinnliches Erlebnis zu sehen, sondern als etwas, das viele Tiefendimensionen hat, die sich in Form von Modellen ausdrücken lassen. Diese Modelle sind aber keine starren Substanzen, sondern fluktuierende Systeme, die in Bewegung gesetzt werden. Das ist auch etwas, was wir heute gesehen und gehört haben. Das Konzept ist sowohl beim Video als auch beim Klang, vorgefundene oder aufgenommen Materialien mit bestimmten Algorithmen in Bewegung zu setzen und zu transformieren.
Essl: Das hat natürlich mit dem Auftrag 650 Jahre Universität Wien zu vertonen zu tun. Wenn man sich die Geschichte seit dem Gründungsjahr 1365 ansieht, wird man feststellen, wie viel in dieser Zeit passiert ist. Ich habe versucht eine Art historischen Zeitstrahl zu finden und zu schauen, was da alles war. Die Zeiten waren immer schrecklich. Wenn wir sagen, dass wir heute in Europa in einer ganz speziell schwierigen Situation sind, dann müssen wir auch sehen, dass das eigentlich zu allen Zeit so war. Ich glaube nicht, dass es jemals anders war. Wenn man zurück ins 17. Jahrhundert geht, war beispielsweise der 30jährige Krieg ein absoluter Horror. Das ist alles in diesen 650 Jahren passiert. Ich habe nach Zeitmarken gesucht, an denen man die Zeit mithilfe eines Musikstücks thematisieren oder auratisch umschreiben kann. 1365, also im vierzehnten Jahrhundert, gab es musikalisch nicht sehr viel in Österreich. Das Einzige waren Spätausläufer des Minnesangs. Da gab es in Salzburg einen ganz lustigen Zeitgenossen, dessen Name nicht bekannt ist. Er wurde einfach der Mönch von Salzburg genannt und man vermutet, dass er der Bischof von Salzburg war. Er hat vor allem unanständige Lieder komponiert, die sich eines Geistlichen eigentlich nicht ziemen. Ich habe da ein schönes Stück über das Kühhorn gefunden. Das ist ein Musikinstrument, aber auch ein phallisches Symbol. Das Kühhorn wird am Anfang auch gespielt und man hört eine Obertonmelodie. Das ist natürlich ein schöner Ausgangspunkt, man beginnt sozusagen im Naturklang mit ganz einfachen harmonischen Verhältnissen und entwickelt sich dann über die Jahrhunderte zu immer größerer Komplexität.
Granulare Resynthese des Kühhorns des Mönchs von Salzburg (14. Jhdt.)
Essl: Sie meinen jetzt die Zwischenteile mit den Geräuschen. Ich habe versucht, diese Soundscapes so zu bauen, dass sie sich über die Zeit verändern. Es gibt immer wiederkehrende Elemente, das Atmen zum Beispiel. Das ist mein eigenes Atmen, das ist eigentlich ständig da. Am Anfang hört man viele Waldgeräusche, Wasserplätschern.
Hötzenecker: Der Unterschied zwischen den Geräuschkulissen am Anfang und Ende wird klarer, wenn man beide gegenüberstellt.
Essl: Das ist jetzt Mittelalter. Wir hören Schritte, Vögel, Wald. Das Wasser kommt auch immer wieder. Das sind immer vier verschiedene Schichten, die ineinander kreisen, hinein- und hinausgemischt werden, sich aber auch langsam verändern, indem sie transponiert werden. Es entsteht eigentlich der Eindruck einer Unendlichkeit. Es sind kurze Aufnahmen, die so prozessiert werden, dass sie sich immer neu kombinieren. Gegen Ende ist das sehr markant, das spiele ich Ihnen jetzt vor.
Essl: Es gibt eigentlich einen deutlichen Übergang. Die Soundscapes sind so gebaut, dass sie am Anfang die Natur abbilden, später kommt der Mensch dazu, am Schluss dann die Technik. Das ist auch ein schöne Zahlenspielerei, es gibt drei Naturrepräsentanten: Wald, Plätschern und Herdenglocken. Dann kommt der Mensch: Die Schritte, die Pferdekutsche, das Atmen und Menschen die reden. Das wurde in einem Chinarestaurant in Wien aufgenommen und die Leute haben alle Chinesisch geredet, was den Vorteil hat, dass man nicht erkennt, was gesagt wird. Am Schluss kommen fünf verschiedene Technikgeräusche: Das ist die U-Bahn in Wien, Autoverkehr in Toronto, eine kinetische Skulptur in einem Museum, eine Geisterbahn am Leopoldimarkt in Klosterneuburg und ein Rolltreppe. Diese Materialien werden nach einem bestimmten Algorithmus im Laufe der Jahre immer neu zusammengesetzt. Es verschiebt sich immer um eine Einheit und dadurch entstehen Übergänge. Das heißt bestimmte Klänge bleiben über zwei oder drei Jahrhunderte gleich, aber dafür kommen andere hinzu. Dadurch kommt es im Grunde zu einer Art Transformation. Und es wird auch lauter, je moderner es wird.
Essl: Das Stück besteht eigentlich aus acht Teilen und jeder Teil ist eine Komposition mit einer eigenen Partitur. Das heißt ich improvisiere das nicht frei, sondern es gibt eine Partitur, die ich mir [am Computer] anzeigen lasse. Diese Partitur ist nur für mich verständlich, es handelt sich um Spielanweisungen für mich. Zum Beispiel, dass dieser Regler einen Spectral Drone erzeugt. Das heißt, aus dem Klang werden die stärksten Sinus-Komponenten herausgepickt und diese über längere Zeit gespielt. Dadurch entstehen Schleier, je nachdem wie komplex das Material ist, kann das clusterartig oder tonal sein. Dieser Drone wird stark aufgedreht, das heißt der ganze Klang wird total vernebelt und zu einer Fläche. Dann wird der Hall F15 (rev) auf 25 Prozent eingestellt. Die kleinen Sachen wie F1 (pass) und F2 (dur) sind Parameter der Granularsynthese, über die ich noch zu sprechen komme. Dann weiß ich, dass jetzt der Teil mit dem Innsbruck-Lied beginnt. Der Übergang ist dann, dass ich den Drone ganz langsam gegen 0 ziehe, die Vernebelung löst sich auf und aus dem Nebel kommt eine neue Musik zum Vorschein: Eine granulare Resynthese des Innsbruck-Liedes, das gerade abläuft. Dort gibt es bestimmte Parameter dieser Granularsynthese, die ich dann mit den Reglern in bestimmten Größendimensionen oder Bereichen verändere. Dadurch entsteht aus diesem Chor ein neues Stück. Dann gibt es wieder einen Übergang, wo es in die nächste Soundscape hineingeblendet wird. Aber das sind nur Partituranweisungen für mich als Aufführenden, für einen Außenstehenden wäre es sehr schwer das umzusetzen. Das gehört zu den Stücken, die nur ich spielen kann.
Granulare Resynthese von Heinrich Isaacs Innsbrucklied (15. Jhdt.)
Essl: Der Ablauf ist eigentlich ganz trivial: das Stück alterniert immer zwischen den Soundscapes und den Klangauren mit den Stücken aus den acht Jahrhunderten. Wir haben viel darüber gesprochen, wie man das visualisiert. Ich habe dann gesagt, dass dort, wo die Musik sehr stark im Vordergrund ist, das Bild keine zusätzlichen Informationen hinzufügen sollte. Es sollen die Noten der Originalpartituren der jeweiligen Stücke gezeigt werden und diese werden mit speziellen Mitteln transformiert. Auch diese Transformationen sind live. Er arbeitet im Visuellen genau so wie ich im Auditiven. Die Passagen sind erarbeitet und definiert, aber wir improvisieren dann. Er hört auf das, was ich mache, ich schaue auf die Bilder und dann spielen wir zusammen, wie zwei Musiker, die zu einem bestimmten Thema miteinander improvisieren. Man kennt das Setting und weiß, in dem kann man sich bewegen.
OMNIA IN OMNIBUS: Visualisierung von Simon Essl
Essl: Dazu muss ich sagen, dass ich kein Mathematiker bin. Ich fühle mich sehr gehrt, dass ich hier unter so wichtigen Koryphäen sprechen darf. Ich versuche aus meiner ganz einfachen Vorstellung zu erklären, was mir dabei wichtig ist. Ich habe vorhin schon den Begriff Granularsynthese verwendet. Ich weiß nicht, ob er unter Mathematikern auch bekannt ist. Er geht zurück auf einen ungarischen Mathematiker namens Gábor Dénes, 1900 geboren. Dieser Mathematiker hat ein Theorem zur Granularsynthese aufgestellt, wie man mit Methoden der Quantenmechanik Klangquanten beschreibt. Seine Theorie ist, dass man die Klangmassen nur mit statistischen Mittel definieren kann und nicht, in dem man sie ganz genau determiniert. Das Interessante bei Gábor Dénes ist, dass er 1971 den Nobelpreis für Holographie bekommen hat. Außerdem ist er einer der Gründer des Club of Rome. Also eine durchaus interessante Persönlichkeit. Es gab einen berühmten zeitgenössischen Komponisten, der vor einiger Zeit verstorben ist, Iannis Xenakis. Er hat in den 70er Jahren ein Buch mit dem Titel „Formalized Music“ herausgebracht. Darin hat er Theorien von Gábor Dénes genommen, sie in Computerprogramme umgesetzt und festgelegt, was man daraus mithilfe von Klangsynthese machen kann. Er hat erstmals damit kompositorisch gearbeitet, zu einer Zeit, wo Computer noch mit Lochkarten bearbeitet werden mussten und Klangsynthese nicht in Echtzeit funktioniert hat, sondern Nächte gedauert hat. Diese grundlegenden Arbeiten von Xenakis sind dann weiterentwickelt worden, heutzutage sind die Computer rasend schnell und es gibt neue Möglichkeiten der Software-Programmierung. Die Programmsprache, das ich verwende, wurde vor 25 Jahren am IRCAM in Paris entwickelt. Das ist das Computermusik-Forschungszentrum, das Pierre Boulez, der vor kurzem gestorben ist, begründet hat und wo ich selbst zwei Jahre gearbeitet habe. Da bin ich mit dieser Software in Berührung gekommen, die mir jetzt einfach ein Werkzeug ist, mit der ich meine künstlerischen Ideen testen und realisieren kann.
Hötzenecker: Was also früher Feder und Papier waren, ist für Sie das Computerprogramm?
Essl: Ich verwende auch Feder und Papier. Die Software ist wie ein Studio. Ich habe in meinem Studio aber keine Synthesizer oder Geräte, die man zusammensteckt, sondern nur Software. Alles was ich brauche, kann ich mir selber programmieren.
Hötzenecker: Und damit kann man sich von dem Vorurteil verabschieden, das man für auf Computern basierte elektronische Musik keinen Menschen mehr braucht. Sie sind ja nach wie vor Komponist und das ist einfach ein Mittel zum Zweck für Sie.
Essl: Sie haben ja gesehen, dass es so viele verschiedene Parameter gibt, die man dann in Echtzeit manipulieren muss. Das ist eine Art von Polyphonie, die man auch üben muss. Ich habe für die heutige Aufführung eine Woche lang jeden Tag geprobt. Ich kann das nicht aus dem Stand spielen, das ist unmöglich. Ich muss alles im Kopf haben, ich muss mir alles vorstellen und dann muss ich genau wissen, wie ich den Finger bewege und wie schnell die Bewegung ist. Im Grunde ist Klavier spielen nichts anderes. Klavier spielen heißt nichts anderes, als die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Intensität zu treffen und sie eine bestimmte Zeit lang zu halten. Das sind vier Parameter. Das klingt sehr einfach. Aber mit diesen vier Parametern kann man mit einem Computerklavier jeden Chopin umsetzen, mehr ist es nicht. Allerdings ist die Verbindung dieser vier Parameter unendlich komplex. Im Grunde ist jedes Musikstück, das wir hören, wenn wir es digitalisieren, nichts anderes als die Abfolge von Nullen und Einsen. Das ist auch trivial. Aber wie die zusammenhängen, das ist eben die Kunst.
Ausschnitt aus OMNIA IN OMNIBUS: Finale
Rektor Heinz Engl: Würde man die Musik anders hören, wenn man das, was Sie jetzt gesagt haben, vorher gesagt bekäme oder sollte man?
Essl: Das ist eine sehr gute Frage. Es gibt in der Postmoderne den Begriff der Doppelkodierung. Das heißt, es gibt immer mehrere Wirklichkeits- und Wahrheitsebenen. Die eine Ebene, die mir sehr gefällt, ist die Musik als reines Klangphänomen zu hören. Also ohne Wissen. Ich kann jede Musik, egal ob das jetzt zeitgenössische Musik, alte Musik oder außereuropäische Musik ist, genießend hören, wie wenn ich eine gute Mahlzeit esse. Ich habe keine Ahnung was dahinter steckt, ich lasse es einfach auf mich wirken und ich versuche nicht es zu verstehen, sondern mich davon erfüllen zu lassen. Das ist ein schöner Modus. Den verwende ich oft. Es gibt einen anderen Modus, den Modus des Verstehens. Wenn man viel über Musik weiß, kann man natürlich seine ganze Erfahrung abrufen und hineinbringen. Dann kommt man auch wohin und das ist sicher auch nicht falsch. Ich glaube, es ist immer schön, wenn man diese verschiedenen Ebenen gleichzeitig hat und springen kann. Aber wenn Leute das Fachwissen haben, ist das auch toll. Aber man braucht es nicht. Man kann ja auch in ein Konzert gehen und sich einfach von der Musik wegtragen lassen.
Hötzenecker: Um den Kreis zu schließen: Stockhausen hat beides gemacht.
Essl: Stockhausen hat viele Phasen gehabt. Auch solche, wo er völlig abgedreht war und in kosmischen Zusammenhängen gelebt hat, wo er mich ehrlich gesagt nicht mehr interessiert. Da habe ich nicht mehr folgen können. Ich kann seine Musik aber trotzdem genießen. Ich kann seine „Kontakte“ als total interessantes Klangstück hören und kann auch verstehen, wie die ganzen Zeitkonstruktionen, die er macht, funktionieren. Das ist beides ein Vergnügen.
Prof. Harald Rindler: Eines ist klar, jedes individuelle Hörerlebnis setzt eine eigene lange Entwicklungsgeschichte voraus, vielleicht sogar eine evolutive. Ich würd es jetzt anders hören, nach dem was Sie gesagt haben. Aber eines ist wohl klar, irgendein berühmter Komponist hat mal gesagt: Können Sie Ihr Stück erklären? Da hat er geantwortet: Wenn das möglich wäre, hätte ich es gar nicht schaffen brauchen. Also ich habe schon viel mehr hineininterpretiert, Sie haben es nüchtern analysiert.
Essl: Ich habe über das Stück gar nichts ausgesagt. Ich habe nur über die Kochzutaten gesprochen. Gehört haben Sie es, das ist wirklich Ihre Angelegenheit. Ich bin nur der Koch, aber nicht der Verkoster.
Rindler: Es war ja eine großartige Verfremdung. Und am wenigsten verfremdet, wenn man das jetzt als Traumwelt bezeichnet, die „Träumerei“ von Schumann, während konzeptuell am wenigsten verfremdet Berg war. Das ist meine Auffassung.
Essl: Das ist interessant! Die „Träumerei“ ist ein Stück, das so eingebrannt in unsere Bewusstsein ist, dass selbst wenn wir es in kleinste Einheiten zerhacken und die Einheiten durcheinander mischen, wir es trotzdem als „Träumerei“ erkennen. Das ist verfremdungsresistent. Die „Träumerei“ ist in Einzelteile faschiert worden und zu einem neuen Fleischlaberl gemacht worden. Sie hören einen halben Takt 17, dann springt er nach vorne und spielt dann eine Note aus Takt 3 und dann geht er wieder zum Schluss. Das heißt er springt die ganze Zeit und es ist im Grunde eine Art Shuffle und ein granulares Kontinuum.
Rindler: Nur noch ein Kommentar: Für mich als Mathematiker überraschend, ich hätte eher eine unrationale Erklärung gegeben und Sie geben eine nüchtern rationale Erklärung. Sie geben also die so genannte mathematische Erklärung, während man glaubt, dass die Mathematiker so nüchtern wären.
OMNIA IN OMNIBUS: graphical user interface
© 2015 by Karlheinz Essl
Essl: Das zeigen wir vielleicht noch einmal, diese Granularsynthese und wie sie klingt. Also hier läuft jetzt das Innsbruck-Lied. Und Sie sehen, dass sich hier so ein weißes Fenster durch den Klang durchschiebt. Das ist die Wellenform-Darstellung der ersten Strophe, also eine Zeitachse mit der Schallenergie. Sie sehen, dass da oben ein Zeiger läuft, der das abtastet. Der läuft eigentlich ziemlich schnell. Im Original ist das eine Minute Sound. Der wird hier mit der achtfachen Geschwindigkeit abgetastet. Ich stelle jetzt die Geschwindigkeit so ein, dass sie dem Original entspricht. Er fährt jetzt durch den Klang und alle 500 Millisekunden wird einer der Klänge ausgelöst und 500 Millisekunden lang abgespielt. Ich erhöhe jetzt die Geschwindigkeit und die Teile können ineinander überlappen. Plötzlich haben wir das Original resynthetisiert. Ich werde wieder langsamer. Jetzt mache ich die Duration kürzer. Jetzt sind wir bei 100 Millisekunden, jetzt bei 16. Irgendwann versteht man es wieder. Jetzt hab ich noch einen Regler, der mir die erzeugte Pulsation nach einer gewissen Zufälligkeit ausfiltert. Es wird löchrig. Jetzt lässt er statistisch nur noch jeden zweiten Impuls durch. Das sind eigentlich nur drei Regler, aber mit diesen drei Reglern kann man in der Interaktion so wahnsinnig viel machen. Das muss man auch mit dem Ohr kontrollieren. Das ist aber nur ein kleiner Aspekt. Ich kann auch jeden einzelnen Grain nach einem bestimmten System transponieren. Das zeige ich am Schluss noch bei Alban Berg. Der wird nämlich am stärksten transformiert. Das ist aus dem Wozzek. Er springt durch das Ganze, die Grains sind immer gleich lang, zwei Sekunden. Das Besondere ist, dass sie auch transponiert werden. Was sie jetzt gehört haben, war die totale De- und Rekonstruktion. Das sind unglaublich viele kleine Dinge, die miteinander vermischt werden und das Ganze total übersteigern. Und trotzdem erkennt man den Berg noch, weil er so eine eingebrannte Marke ist. Wie bei der „Träumerei“. Das ist vielleicht die große Kunst dieser Komponisten, weil sie etwas geschaffen haben, das, obwohl man es durch den Fleischwolf dreht, immer noch auratisch erkennbar ist.
Publikum: Hat sich ihr Hören durch diese Kompositionstechnik verändert?
Essl: Ja, sehr! Diese Sachen sind ja in Echtzeit entstanden. Das hat mich auch wieder dazu gebracht zu improvisieren. Ich habe früher viele Sessions mit Bands gespielt und improvisiert. Als ich dann bei Friedrich Cerha Komposition studiert habe, habe ich das Ganze aufgegeben und mich brav an den Schreibtisch gesetzt und Noten geschrieben. Ich hatte dann mit Mitte 30 eine Krise und gedacht: Das war jetzt alles? Jetzt habe ich Komposition studiert und Stücke geschrieben. Früher wars doch so schön, dann haben wir noch auf der Bühne gemeinsam gespielt und tolle Sachen sind aus dem Moment entstanden. Dann hab ich mir gedacht: Eigentlich brauche ich ein Instrument. Nach und nach war es mir möglich mithilfe von Computerprogrammen Live-Instrumente - wie etwa m@ze2 - zu entwickeln und das hat dann auch mein Komponieren verändert. Den Klang im Moment zu steuern, gibt mir eine Möglichkeit, die ich kompositorisch nicht realisieren kann. Meine Kompositionen mit Elektronik sind so gestaltet, dass der Live-Anteil sehr wichtig ist und der Interpret, auch wenn es nicht ich bin, die Dinge immer mit dem Gehör noch verändern und sich einbringen kann. Es ist eine sehr angewandte Art des Musikmachens, die einerseits mit Konzepten und Theorien arbeitet, anderseits aber auch sehr intuitiv ist. Weil man ein Klangerlebnis hat und mit diesem Klang auch lebt und ihn kennt und sich davon auch etwas sagen lässt. Ich habe ein Gegenüber, mein Gegenüber ist mein Klang, ein Klang der mir entgegenkommt und mich berührt. Oder ärgert, das kann auch sein.
Engl: Das war doch ein schönes Schlusswort. Danke, dass sie Ihr Stück heute noch einmal aufgeführt haben!
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Updated: 16 Jamn 2021