Hanno Ehrler

www.essl.at

Der Wiener Komponist Karlheinz Essl
1999



Musik im Internet

O-Ton Karlheinz Essl: Letztlich geht es nur um das, was zu hören ist, und das soll sich auch auf der Homepage widerspiegeln; dass, wenn auch in schlechter Qualität, Höreindrücke gewonnen werden können. Mittlerweile hat sich RealAudio enorm verbessert. Ich habe es von Anfang an verwendet, seitdem es rausgekommen ist, wahrscheinlich 94 oder 95. Ich bin oft erstaunt, wie gut die Sachen trotzdem klingen. Als Musiker ist man doch gewohnt, auch von sehr schlechten Aufnahmen oder unter ungünstigen Bedingungen im Konzertsaal etwas mitzubekommen. Wir Musiker haben doch die Fähigkeit, uns unsere klingende Wirklichkeit zurechtzuhören, und das funktionert auch gut mit RealAudio. Es soll jetzt auch gar nicht sein, daß man eine perfekte Klangsdatei geliefert bekommt, denn die würde man auch auf anderem Wege bekommen, als CD zum Beispiel, sondern es geht darum, einen Eindruck zu geben, der einem ein Bild vermittelt, worum es gehen kann.


RealAudio ist ein Programm zum Abspielen von RA- oder RAM-Tondateien. Real-Audio-Dateien sind im Vergleich zum CD-Format so stark komprimiert, daß die Klangqualität erheblich leidet. Andererseits erlaubt die massive Datenreduktion eine kontinuierliche Übertragung von Musik und Ton übers Internet, auch wenn man nur ein ganz gewöhnliches Modem besitzt. Rundfunksendungen zum Beispiel können mit RealAudio übers Internet gehört werden, sofern die Sender, wie der ORF, ihr Programm im Netz anbieten.


Ausschnitt aus Champ d'Action (1998)
Realtime composition environment for computer-controlled ensemble

mit: Richard Barrett (sampler), Mary Oliver (vl), Radu Malfatti (tmb), Elisabeth Flunger (perc)
Burkhard Stangl (e-git), Gene Coleman (bcl), Werner Dafeldecker (db); Dirigent: Karlheinz Essl


www.essl.at: diese Adresse führt zur Homepage von Karlheinz Essl, ein Komponist, den man per Internet kennenlernen kann. Auf der Homepage sind viele Werke des 1960 geborenen Wieners mit Musikbeispielen dokumentiert. Die meisten dieser Beispiele lassen sich auf den heimischen Computer herunterladen oder mit RealAudio live hören. Wer sich also für Essls Musik interessiert, kann sich die aufwendige Suche nach eventuell erschienen CD's mit Werken des Komponisten sparen, ebenso das Warten auf entsprechende Rundfunksendungen. Ein Mausklick genügt, und der RealAudio-Player startet.


Zungenreden

"Das radiophone Hörstück Zungenreden basiert auf Jorge Luis Borges Erzählung Die Bibliothek von Babel. Mit Hilfe eines Computerprogrammes wird die literarische Vorlage nach und nach dekonstruiert. Bei anfänglicher Beibehaltung der grammatikalischen Struktur verwirren sich zunächst die semantischen Bezüge. Allmählich wird auch die Syntax brüchig, ehe der Auflösungsprozeß auf die einzelnen Worte übergreift. Es entstehen merkwürdige Sprachvarianten, die zunächst Assoziationen an bestimmte Dialektformen hervorrufen mögen. Daraus entwickeln sich schließlich künstliche Sprachen, die zuletzt in ihre phonemischen Bestandteile zerlegt als reine musikalische Klangwerte, ohne jegliche semantische Bedeutung, ertönen." (Karlheinz Essl)


Ausschnitt aus Zungenreden (1990)
radiophones Hörstück


"Ich habe die Fahrt nach einem Buch angetreten, vielleicht dem Katalog der Kataloge - in der Einsamkeit eines Raums", so heißt es in "Zungenreden" - was wie ein Programm für Karlheinz Essls Internet-Arbeit klingt. Der Katalog der Kataloge, das sind die über Hyperlinks vielfältig miteinander vernetzten, weltweit auf unzähligen Computern gespeicherten Daten des Internet, und der Raum oder der Ort, wo sich dieser Katalog befindet, ist das Internet selbst.


O-Ton Karlheinz Essl: Ich seh das Internet als eine ganz merkwürdige Art von Ort: ein Ort der ortlos ist und zugleich überall vorhanden, und zwar nicht als Realität sondern mehr als Möglichkeitsfeld.


Ausschnitt aus Klanglabyrinth (1992-95)
sound & space installation


Die Bibliothek von Babel

Karlheinz Essls Homepage enthält natürlich nicht nur Musik, sondern auch Schriftliches. Das meiste, was über Essl und von Essl geschrieben wurde, ist im Volltext gespeichert, Aufsätze, Kritiken, Werkkommentare. Essls Homepage ist eine Bibliothek zum Thema Essl. Eine Übersicht verzeichnet den Bestand, und ein Mausklick ermöglicht den direkten Zugriff auf den gewünschten Titel. Aber die Homepage kann mehr als eine Bibliothek, denn über Hyperlinks hat Essl seine Texte miteinander vernetzt. Man kann zwischen ihnen hin und her springen und hie und da auch zu anderen Web-Seiten gelangen, ganz gleich, auf welchem ans Internet angeschlossenen Computer sie sich befinden.


O-Ton Karlheinz Essl: Ursprünglich war das nichts anderes, als dass ich mein eigenes Archiv ordnen wollte und hypertextuell verlinken wollte, eine Arbeit die ich eigentlich schon früher, bevor ich mit Internet und Computer zu tun gehabt habe, bis zu einer gewissen Manie betrieben habe. Denn immer wenn ich Bücher gelesen habe, habe ich mir Annotation gemacht und Verweise auf andere Bücher, Randbemerkungen, Kommentare, Glossen angefügt. Und so sind die Bücher aus dieser Zeit eigentlich alle miteinander verlinkt. Und ich fand das plötzlich dann faszinierend zu sehen, dass es eine Programmiersprache gibt oder ein environment, wo das eigentlich von Anfang an als Paradigma vorhanden ist. Und es hat mich gereizt, meine Texte und Werkommentare und so weiter, die alle jetzt dann auch digital vorgelegen sind, in dieser Weise in ein großes System zu integrieren, in ein offenes System, das wächst, das ständig im Fluß ist, das sich verändert, das aufeinander verweist. Es geht auch wirklich ums Netz bauen, auf andere zu verweisen, neue Anker zu setzen.


Aufwendige Recherchen in Zeitungsarchiven und Bibliotheken oder Anrufe bei Verlagen und ähnliches entfallen, wenn man etwas über Karlheinz Essl wissen möchte. Essl schöpft das bibliographische Potential des Internet aus, den schnellen Zugriff auf diverse, an verschiedenen Orten gelagerte Quellen und ganz besonders auch die multimedialen Möglichkeiten: ob Text, ob Ton, ob Bild oder Video - alles läßt sich übers Netz vermitteln.


O-Ton Karlheinz Essl: Es begann eigentlich schon während meines Studium in den 80er Jahren an der Uni. Das musikwissenschaftliche Institut war assoziiert mit dem Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die schon sehr früh begonnen haben, Klanganalyse zu betreiben. Und die waren natürlich an das damalige Bit-Net angebunden, das universitäre Datennetz, also dem Vorläufer des Internets. Und ich habe Mitte der 80er Jahre immer mal wieder mit dem Internet arbeiten müssen, aufgrund der Tatsache, dass mein Freund und wichtiger Gedankaustauschpartner Gerhard Eckel schon sehr früh ins Ausland gegangen ist. Und es war mir wichtig, Kontakt mit ihm zu haben, Sachen mit ihm zu diskutieren. Und so war das oft so, dass ich ihm Material nach Paris ans IRCAM geschickt habe, das er dort auf dem Computer verarbeitet hat und mir dann zurückgemailt hat. Also für mich war das ganz normal. Ich habs nicht so oft betrieben, aber ich hab gewusst, jedesmal wenns ich das brauche, dann kann ich mich in die Schallforschung begeben und dort dem Gerhard Sachen schicken. Dann gab's die wichtige Zeit, wie ich 92 nach Paris gekommen bin ans IRCAM mit einem Kompositionauftrag. Das war damals ganz üblich, dass jeder, der dort arbeitet einen account bekommt mit e-mail. Das Web gab's damals noch nicht in der Form, wie wir es heute kennen; das war grade in den Anfängen. Und in diesen eineinhalb Jahren, wo ich in Paris war, habe ich mir innerhalb der internet community der elektronischen Computermusik eine starke Freundeswelt aufgebaut von Leuten, mit denen ich in Kontakt sein wollte, mit denen ich diskutieren wollte. Und wie ich wieder zurückgekommen bin nach Österreich, war dieser Kontakt völlig abgerissen. Das war schrecklich zu sehen, dass ich jetzt wieder allein bin. Aber ich wollte den Kontakt zu denen behalten. Über das Telefon ist das was anders und ist nicht so selbstverständlich und kontinuierlich, wie wenn man ständig über e-mail in Kontakt ist. Glücklicherweise hat sich in Österreich ein Provider aufgetan, der zum ersten Mal private Internet-Accounts verkauft hat. Ich war 1994 einer seiner ersten Kunden, und seitdem bin ich sozusagen Teil dieser internet community.


Helix 1.0


Ausschnitt aus dem Streichquartett Helix 1.0 (1996 ff.)
Arditti Quartet (London)


Im Streichquartett Helix 1.0 von 1986 komponiert Karlheinz Essl aus kleinsten musikalischen Bausteinen einen, wie er es nennt, "künstlichen Organismus". Auf diese Weise formuliert der Komponist eine Gestalt, die nicht von vornherein als musikalische Formidee vorgegeben ist, die nicht als abstrakter, strukturbildender Faktor wirkt, sondern die gewissermaßen beim Komponieren entsteht.

"Das Streichquartett Helix 1.0 stellt einen Klangorganismus dar, der sich aus dem Ineinanderwirken unterschiedlichster Klangpartikel vor den Ohren des Hörers entfaltet; ein wucherndes Gebilde, worin ich die Vorstellung von Wachstum, Entwicklung, Mutation, Zerfall, Neubildung und Zerstörung ausdrücken wollte. Dabei lenkte ich mein Augenmerk weniger auf das einzelne Klangelement als auf die Relationen, Spannungen und Widersprüche zwischen den Klängen." [Karlheinz Essl im Programmheft zur Aufführung am 27.10.1987 im Wiener Konzerthaus durch das Arditti Quartett]

Eine solche Vorstellung von musikalischer Form beziehungsweise musikalischer Gestalt verweist auf das Bild des Labyrinths, eine Analogie, die im Werk von Karlheinz Essl eine bedeutende Rolle spielt. Ein akustisches Labyrinth bietet dem Rezipienten verschiedene Wege des Hörens an, und das Ganze entzieht sich einer linearen Vorstellung von Musik. Nichtlineares Gestaltdenken und die Vorstellung von quasi organischer Entwicklung resultieren aus Karlheinz Essls musikalischen Erfahrungen.


O-Ton Karlheinz Essl: Ich hab mit 7 Jahren Klavierspielen lernen müssen. Ich hab's nicht besonders gern gemocht, und habe dann in meiner frühen Pubertät begonnen, Gitarre zu spielen, und hab das Klavier dann ins Eck gestellt und mir im Sommer von meinen zusammengesparten Geld eine E-Gitarre gekauft und dann in Rockbands gespielt, war der Lead-Gitarrist. Irgendwann bin ich dann zufällig auf einen Kontrabass gestoßen, dann hab ich lange Zeit Kontrabass gespielt, hab mich dann über den Kontrabas auch zum Jazz hin entwickelt, also vom Rock zum Jazz, und habe dann nach der Schule begonnen, Musik zu studieren.


Kompositorische Entwicklung

Essl belegte bei Friedrich Cerha Komposition, bei Dieter Kaufmann elektro-akustische Musik und bei Heinrich Schneikart Kontrabaß, studierte darüber hinaus Musikwissenschaft und promovierte 1989 mit einer Arbeit über "Das Synthese-Denken bei Anton Webern".

Essls musikalische Entwicklung verlief also zweigleisig, einerseits Rock und Jazz, andererseits eine klassische E-Musik-Ausbildung mit Schwerpunkt serielle Musik. Beides spiegelt sich in der Suche des Komponisten nach Wegen zwischen komponierter und improvisierter Musik. Das Streichquartett "Helix 1.0" von 1986 ist ein klassisch komponiertes Werk. Dagegen fordern Teile bei Champ d´Action von 1998 Improvisation, und sogar die Hörer können durch Zuschaltung per Internet das musikalische Ergebnis beeinflussen.

Karlheinz Essl hat seine Werkliste auf der Homepage in Genres gegliedert. Er verzeichnet "klassische" Bereiche wie Orchestermusik, Kammermusik, Streichquartett, Stimme, daneben elektronische und Computermusik. Er nennt aber auch Rubriken wie Realtime- und Meta-Kompositionen, Meta-Instrumente, Installationen und Soundscapes, Textkompositionen, Web-Projekte und Kompositions-Software. Bei den Werken aus diesen Rubriken ist der Computer selbstverständliches Hilfsmittel bei der kompositorischen Arbeit.

O-Ton Karlheinz Essl: Um 1985 herum kam ich zu dem Punkt, das ich gesagt habe, jetzt beginne ich mich mit der Sache zu beschäftigen, und habe mir meinen ersten Computer gekauft, das war damals ein Atari, eine Kiste, die damals noch ohne Software ausgeliefert worden ist, es gab noch überhaupt keine Software dafür, nur ein LOGO-Programm. Und dann habe ich mit diesem LOGO-Programm begonnen, Musik-Algorithmen zu schreiben und zu entwickeln. Ich hab damals begonnen, grundlegende kompositorische Prinzipien, wie Rhythmusgeneratoren, Harmoniegeneratoren, Operationen an Listen mit Elementen und Symbolen zu formalisieren, und daraus ist über die Zeit bis heute, innerhalb von zehn Jahren, ein beachtliche Software-Library entstanden von Objekten, mit denen ich bis heute arbeite. Die Software ist für zwar mich dokumentiert, aber nicht so, dass jemand anderer damit arbeiten kann. Was anderes ist das bei der Realtime Composition Library for MAX. Diese basiert eigentlich auf den gleichen Prinzipien, nur setzt es die Funktionen dieser Ideen in Echtzeit um. Diese Library läuft auf einem LOGO-Environment auf einem Atari (mittlerweile auch auf einem beliebigen LOGO-Environment auch unter Unix oder PC), aber nicht in Realtime, das heißt, oft hat es eine ganze Nacht gedauert, um so eine Partiturliste sich durchzurechnen, während die "Realtime Composition Library" auf MAX basiert, einem graphischen objektorientierten Entwicklungsystem für Echtzeitanwendungen im Multimedia-Bereich. Und dort laufen die Sache wirklich in Echtzeit. Das heißt, man kann sofort einen Höreindruck bekommen, von dem, was man kompositorisch tut. Das ist eigentlich das, was ich schon immer haben wollte, wonach ich gesucht habe, und was eigentlich erst möglich geworden ist dadurch, dass ich am IRCAM in Paris im Jahr 1992 mit MAX in Kontakt gekommen bin. Es gibt [in meiner Library] mittlerweile 20 verschiedene Rhythmusgeneratoren, die zum Teil mit ganz anderen Ideen arbeiten, mit Zufallsverteilungen, mit stochastischen Modellen, die vielleicht eher so in Richtung Xenakis gehen, mit Markov-Ketten, auch Generatoren die auf vorgegebenen rhythmischen Zellen basieren und diese weiterverarbeiten. Und das Feine dabei ist, dass die Parameter dabei zu steuern sind wie kleine Maschinchen. Das heißt, ich verdrehe ein paar Knöpfe an so einer der Maschine und höre sofort das rhythmische Resultat, das macht unheimlich Spaß. Früher hab ich diese Sachen mit LOGO gemacht, aber da kam irgendeine Zahlenreihe raus, und die mußte ich erst transkribieren und mir dann vorstellen. Und jetzt haben wir sozusagen das unmittelbare Ergebnis. Ich verstelle einen Parameter, zum Beispiel den Dichtefaktor, und höre sofort, was das bewirkt.


Zur Komposition des Stücks Close the Gap für drei Tenorsaxophone benutzte Karlheinz Essl ein Computerprogramm, mit dem er verschiedene Spieltechniken wie Flatterzunge, Triller oder Liegeklänge zu einer Abfolge von Klangtypen formulierte. Diese dienten dann als Material für verschiedene Prozesse.


Ausschnitt aus Close the Gap (1990) für 3 Tenorsaxophone
XASAX (Paris)


Lexikon-Sonate

1992/93 begann Karlheinz Essl die Lexikon-Sonate, sein vielleicht bekanntestes Werk, ein Klavierstück ohne Partitur und ohne Pianisten. Die "Lexikon-Sonate" ist ein Computerprogramm, das in Echtzeit Musik erzeugt und ein Klavier oder einen Synthesizer ansteuert - zum Beispiel einen Midi-Synthesizer, wie ihn heutzutage auch die kleinste Soundcard hat.

Das Programm "Lexikon-Sonate" hat Karlheinz Essl veröffentlicht. Es liegt auf seiner Homepage, von der man es herunterladen, auf dem eigenen Rechner installieren und dann starten kann.


Ausschnitt aus der Lexikon-Sonate (1992 ff.)
interaktive Echtzeitkomposition für computer-gesteuertes Klavier


O-Ton Karlheinz Essl: Einer der Ausgangspunkt ist meine Hassliebe zu diesem Instrument, dem Klavier. Ich wurde mit sieben Jahren gezwungen, Klavier zu lernen; ich wollte Blockflöte spielen. Trotzdem war ich am Klavier nie gut. Es war immer frustrierend, zu sehen, dass ich das, was ich im Kopf hatte, auf den Tasten nicht adäquat umsetzen konnte. Meine ersten Kompositionversuche waren natürlich trotzdem Klavierstücke, aber ich habe sonst kein einziges Klavierstück geschrieben bis jetzt, und ich kann mir auch nicht vorstellen, ein Klavierstück zu schreiben. Das einzige, was mir möglich war: Ein Klavierstück zu machen, das ganz absurde Kriterien erfüllt. Ein Stück unbestimmter beziehungsweise unendlicher Dauer, ein Stück ohne Pianisten, ein Stück, dass sich nicht reproduzieren läßt, das immer anders ist, das waren praktisch die Voraussetzungen, die ich mir überlegt habe. Und die einzige Möglichkeit, das zu realisieren, war, ein Computerprogramm zu schreiben, das sozusagen dieses Stück in Echtzeit komponiert und auf einem Computerklavier, zum Beispiel einem Bösendorfer SE Flügel oder einem Yamaha Disklavier oder auch einem Synthesizer spielt. Und dann war es interessant zu sehen, dass es natürlich in diesem Genre "Klavier" ganz viele Klischees gibt, also Spielfiguren wie die Albertibässe, diese ganzen Skalenbewegungen, Dreiklangszerlegungen usw. Ich habe dann versucht, einen Katalog zu erstellen, mit solchen Klaviergrundstrukturen, Requisiten aus dem Fundus einer vielhundertjährigen Geschichte der Klaviermusik, ohne jetzt einen wissenschaftlichen Anspruch an den Tag zu legen. Der Witz dabei ist, dass dieser Katalog jetzt nicht abgebildet ist, indem jetzt Beispiele aus der Klaviermusik eingesampelt sind, sondern ich hab versucht, die Prinzipien herauszufiltern. Das heißt, letztlich gibt es hier keine Espressivomelodien, die abgespeichert sind als Espressivomelodien, sondern es gibt einen Generator, der in der Lage ist, solche Espressivomelodien zu generieren, und zwar unendlich viele und unendlich lange. Es gibt andere Generatoren, die spezialisiert sind auf Akkorde und Akkordverbindungen, andere wiederum machen eher idiomatische Figuren wie Triller oder Skalen oder Glissandi.


Ausschnitt aus der Lexikon-Sonate (1992 ff.)
interaktive Echtzeitkomposition für computer-gesteuertes Klavier


Was mich besonders an dem Prinzip des Lexikons interessiert: über die Querverweise gelangt man vom Hundertsten ins Tausendste. Man kann sich regelrecht darin verlieren. Dazu ein Beispiel: Wir schlagen das Lexikon auf. Wir sind in Darmstadt, also ich lese über die Geschichte von Darmstadt, über den Jugendstil und die Mathildenhöhe. Bei diesem Stichwort finde ich den Hinweis, dass es dort eine Sonnenuhr gibt. Im Kapitel Sonnenuhr steht wieder einen Verweis auf Zeitmessung und Zeit, und von Zeit komme ich dann zu Norbert Elias - wir haben nun eine "tour de force" von Darmstadt zu Norbert Elias gemacht. Plötzlich bin ich bei ihm angelangt, kann mich von dort aus weiterbewegen und habe Darmstadt schon längst vergessen. So funktioniert auch meine Musik. Die einzelnen musikalischen Strukturen, die hier miteinander kommunizieren, sind einer Art Lexikon-Prinzip unterworfen. Es kommt immer etwas Neues dazu, das gewisse Beziehungen aufweist zu etwas Altem, und das Alte verschwindet langsam aus der Erinnerung. (Karlheinz Essl: Lexikon-Sonate. Darmstadt-Lecture 1994)

Zur Lexikon-Sonate gehört ein sogenanntes User-Interface, die Bilddatei einer Schalttafel mit einer ganzen Reihe von Drop-Down-Menüs. 24 Eigenschaften der Musik, die der Computer erzeugen soll, kann man dort definieren: Esprit, Triller, Orgelpunkt, Arpeggio und so weiter. Dann klickt man auf Start.


Esprit Joyce Gruppen Scala Fermata Ricochet Clouds MeloChord BrownChords Dependance Orgelpunkt SoloPlay Arpeggio Figuren Triller Glissando Generalpause RePlay User-Interface der Lexikon-Sonate

Benutzeroberfläche der Lexikon-Sonate
vs. 3.2 (11 Jan 2007)
click-able map!


O-Ton Karlheinz Essl: Wenn Sie auf den Startknopf drücken, dann wird der sogenannte Autopilot eingeschaltet. Das ist wie wenn Sie sich in ein Flugzeug setzen und irgendein maskierter Pilot entführt Sie und fliegt Sie irgendwohin, in eine Welt, die Sie noch nie gesehen haben, die ist jedesmal anders. Das ist die eine Möglichkeit.

Die andere Möglichkeit ist, dass Sie sich selbst ans Steuer setzen und angeben, wohin sie wollen. Und das vergleiche ich dann oft mit einem Zug. Sie sitzen vorne im Zug drinnen, es gibt einen Schienenstrang, den sie nicht kennen, und Sie können nur sagen "Stop" oder "Go". Wenn Sie Stop sagen, schauen Sie sich die Landschaft an, die sie sehen, solange Sie wollen. Sie hören eine bestimmte Art von Musik, die zwar Veränderungen unterworfen ist, aber in sich über einen langen Zeitaum hinweg betrachtet statisch und ruhend ist. Statisch heißt jetzt nicht, dass es langweilig ist oder dass es sich wiederholt, sondern es ist eine gewisse Art von struktureller Konstanz vorhanden. Und wenn Sie aber "Go" sagen, fahren Sie mit dem Zug ein Stückchen weiter und kommen in eine neue Welt, wo die alte sozusagen noch nachschimmert und nachwirkt, und können sich umschauen solange sie wollen. Da die Lexikon-Sonate auf bestimmten Strukturgeneratoren basiert, können Sie andrerseits auch bestimmen, welche Strukturgeneratoren miteinander spielen. Sie können sagen, ich möchte Arpeggien mit BrownChords und Esprit, also Espressivomelodien kombinieren.

Die dritte Möglichkeit ist, dass man das Lexikon-Sonate wie ein Instrument benutzt. Die einzelnen Strukturgeneratoren können über die Computertastatur abgerufen werden. Jedesmal, wenn ich die beispielsweise die S-Taste drücke, wird ein Arpeggio ausgelöst, und wenn ich die Eins-Taste drücke, wird ein Esprit-Generator gestartet, wenn ich Eins nochmal anklicke, wird der Esprit-Generator wieder ausgeschaltet. Und ich hab das jetzt unlängst in einer Performance mit der Pianistin Manon Liu Winter (ehem. Rennert) live realisiert, wir haben beide improvisiert, und ich hab das wirklich üben müssen, über viele Monate, dass ich auf meiner Computertastatur das Stück spielen kann. Ich hab da noch ein Pedal gehabt für die Intensität, für die Lautstärke, weil die Computertastatur natürlich nicht anschlagdynamisch ist. Und das Ganze haben wir dann auf zwei Klavieren gespielt: sie auf einem Steinway, ich auf einem Yamaha Disklavier via Computer. Und die Pianistin hat die Strukturgeneratoren der Lexikon-Sonate gelernt. Das heißt, die konnte die wirklich improvisieren, was eine unheimliche Leistung ist.


Ausschnitt aus Lexikon-Sonate (1992 ff.)
interaktive Echtzeitkomposition für computer-gesteuertes Klavier

Manon Liu Winter: Steinway Piano
Karlheinz Essl: Yamaha Disklavier


Die "Lexikon-Sonate" ist ihrem Konzept nach eine Art Hyper-Sonate, aber nicht im Sinne eines ultimativen Klavierstücks, sondern im Sinne eines Puzzles mit multifunktional aufeinander bezogenen Bausteinen. Nach Vorgabe des Programms beziehungsweise seiner Variablen werden diese Bausteine dann zusammenmontiert, fragmentarische Charakteristika der abendländischen Musikgeschichte, Spielfiguren, Stimmungen, Verlaufsstrukturen. Das klangliche Ergebnis einer jeden Realisation wirkt je mehr oder weniger assoziativ, löst aber in jedem Fall ein Wiedererkennen musikalischer Muster aus. Jede Realisation der "Lexikon-Sonate" ist eine von unendlich vielen, die der Computer mit dem Programm herstellen beziehungsweise komponieren kann. Das berührt den Werkbegriff, den Karlheinz Essl mit diesem Stück auf eigene Weise neu definiert. Aspekte des Offenen fließen ein, die vom Komponisten unabhängige Beeinflussung des Klangergebnisses durch den Benutzer des Programms und die Verschiedenartigkeit einer jeden Realisierung.


Amazing Maze

Was in der "Lexikon-Sonate" von 1992/93 angelegt war, hat Essl in Amazing Maze von 1996 und in m@ze°2 von 1999 weiterentwickelt. Dieser Prozess ist auf der Homepage des Komponisten dokumentiert, mit Informationen, Musikbeispielen, dem Programm der "Lexikon-Sonate" sowie dem Klangerzeugungs-Programm für "Amazing Maze". Zugleich avanciert das Internet vom Dokumentationsmedium zur Arbeitsplattform. Wie Essl das Netz als eine solche Plattform musikalischer und kompositorischer Arbeit nutzt, das erklärt er selbst in einem ebenfalls auf der Homepage über RealAudio zu hörenden Kommentar.


O-Ton Karlheinz Essl: Es sind eigentlich immer Musiker, mit denen ich in Kontakt trete oder die mit mir in Kontakt treten, wo wir gemeinsam ein Projekt angehen. Als Paradebeispiel dafür gilt das work-in-progress "Amazing Maze", das in Zusammenarbeit mit verschiedenen Musikern hauptsächlich aus Amerika zustande gekommen ist, wo Musiker mich gebeten haben, für ihr eigenes Instrument eine Version des Stückes zu machen. Das Stück besteht eben aus einem Computerprogramm, das auf einem Apple Macintosh läuft, das elektronische Klänge in Echtzeit generiert, die der Spieler beeinflußen kann. Über Email nahm ein Cellist namens Jeffrey Krieger Kontakt mit mir auf. In seinem Brotberuf ist er Solocellist in einem Symphonieorchester in Massachuetts. Aber daneben spielt er auch als Solist Solo-Performances von zeitgenössischer Musik auf einem elektrischen Cello - vergleichbar einer E-Gitarre, aber als Cello. Er hat mit mir zusammen eine neue Version dieses Stückes gemacht, wo ich bewußt Bezug genommen habe auf seine Art des Spielens und auf sein Instrument und seine Art mit Technik umzugehen, und dann entstand eben diese spezielle Version für sein Stück, die auch Klänge, die er selber mit seinem Instrument aufgenommen hat, einbezieht. Es war wirklich eine gegenseitige Durchdringung. Er hat mir seine Klänge übers Internet geschickt aufgrund meiner Vorgaben, einem ausdefiniertem Raster von Möglichkeiten, die mich interessiert haben. Er hat mir die Klänge geschickt, ich hab sie in das Programm eingebaut, und er spielt das Stück jetzt relativ häufig.

Karlheinz Essl legte für "Amazing Maze" bestimmte Klangtypen fest, die in einer solchen Kollaboration über Internet mit verschiedenen Musikern ausgearbeitet wurden. Bei einer Aufführung erzeugt der Computer auf der Basis dieser ausgearbeiteten Klänge und anhand von vordefinierten Spielstrategien Sounds, zu denen die Musiker spielen, zum Beispiel die Wiener Schlagzeugerin Elisabeth Flunger.


Musikbeispiel

Ausschnitt aus Amazing Maze (1996 ff.)
interaktive Echtzeitkomposition - Version für Schlagzeug und elektronische Klänge

Elisabeth Flunger: Schlagzeug
Karlheinz Essl: Computer


Das offene Kunstwerk

O-Ton Karlheinz Essl: Ich hab versucht, eine Dialektik aufzubauen zwischen dem Werk als etwas geformtem, etwas Festem, etwas Meisterhaftem, was nicht hinterfragt werden kann, und dem Prozess, der immer das Gegeteil ist, Prozess komplett ungebunden, richtungslos, der Prozess im Sinne von Cage, und hab dann versucht, eine Synthese oder eine Brücke zu bilden zwischen diesen Aspekten des Werks und des offenen Prozesses, und bin dann zu diesem komischen Begriff des offenen Kunstwerks gestoßen, den eigentlich der Eco schon in den 60er Jahren proklamiert hat, wo Aspekte des Werkhaften mit Aspekten des Prozesshaften zu einer Verbindung gebracht werden.


"In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne dass seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde." (Umberto Eco, Opera aperto)

Umberto Ecos Vorstellung vom offenen Kunstwerk repräsentiert kein radikales, sondern ein nach-avantgardistisches Verständnis von Offenheit in der Kunst. Das Offene wird beschränkt, indem man dem Kunstwerk Identität abverlangt. Seine möglicherweise verschiedenen Erscheinungsformen müssen das gemeinte Kunstwerk erkennen lassen; unterschiedliche Realisierungen einer Komposition beispielsweise müssen Klang- oder Struktureigenschaften besitzen, die auf das kompositorische Konzept verweisen. Solche Identität hat Karlheinz Essl stets im Sinn, wenn er über improvisatorische, mehr-perspektivische und offene Konzepte nachdenkt, wenn er seine musikalischen Visionen entwirft. Seine Utopie ist ein "Kunstwerk", das nicht nur Reproduktion von etwas Notiertem ist, das im Moment des Erklingens, also in Echtzeit komponiert wird, das auf äußere Einflüsse reagieren kann, das in seiner Zeitdauer nicht begrenzt ist und das sich niemals wiederholt.


fLOW

Das Internet benutzt Essl als Medium, um solche Konzepte zu realisieren, auch für fLOW, seine wohl bisher offenste und freieste Komposition. Auf der Homepage liegen Tondateien, vier Basisklänge zu den Themen Luft, Erde, Feuer und Wasser, die alle etwas Fließendes assoziieren lassen. Mit ihnen entsteht ein Sound-Environment, das einzig Verbindende zwischen den verschiedenen Realisationen von "fLOW".


Ausschnitt aus der Soundscape von fLOW (1998/99)


O-Ton Karlheinz Essl: "fLOW" ist ein sogenanntes work-in-progress, also kein Stück, das als fertiges Werk aufführbar und reproduzierbar ist, sondern ein Gedankenkomplex, aus dem heraus sich verschiedene Varianten ableiten, die mit jeweils verschiedene Musiker in verschiedenen Örtlichkeiten stattfinden; Örtlichkeiten, die nicht dem Konzertsaal entsprechen, sondern zum Beispiel ein Schwimmbad sind oder ein Museum. Das ganze Projekt wird zusammengehalten von einem roten Faden - eine mehrkanalige Soundscape, die sich fLOW nennt, die wiederum nicht als produzierbare CD zum Beispiel oder als Klangaufnahme existiert, sondern als Computerprogramm, das in Echtzeit diese Klänge erzeugt und in die auch eingegriffen werden kann. Für jede Realisation entwickle ich aufgrund des Kontextes, das heißt des Raumes und der involvierten Musiker, eigene Spielstrategien, Abläufe, Zeitpläne, die wir dann gemeinsam mit den Musikern und auch Tänzern vor Ort proben und realisieren. Und die Musiker beginnen jetzt aufgrund von Regeln, die vorgegeben sind, oder den Konzepten, diese Soundscape zu interpretieren, zu kommentieren, zu stören, zu verändern. Die Kommunikation mit den Musikern findet über weite Strecken übers Internet statt, weil viele der beteiligten Musiker nicht jetzt in meiner Heimatstadt Wien leben, sondern über die Welt verstreut sind und für die Projekte eingeflogen werden. Und so können sie sich zum Beispiel das Stück aus dem Internet herunterladen, auf ihrem Rechner installieren, die Klangwelt kennenlernen, dazu spielen. Und dafür hab ich noch die sogenannte Playing Strategies entwickelt, das sind zufallsgenerierte Textorakel, die dem Musiker helfen sollen, sein Spielverhalten zu hinterfragen.


Musikbeispiel

Ausschnitt aus fLAW (1998/99)
Realisierung als Computer-Soloperformance am 15.4.1999 im LabRadio Chicago

Karlheinz Essl: Computer



© 1999 by Dr. Hanno Ehrler / Bayerischer Rundfunk


in: Radiosendung des Bayerischen Rundfunks - Erstsendung am Montag, 13 Sep 1999



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Updated: 2 Feb 2022

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