Als Christian Ofenbauer, Christian Schedlmayer und ich im Herbst 1987 von unserem Lehrer Friedrich Cerha gefragt wurden, ob wir ein Projekt mit dem Ensemble "die reihe" realisieren möchten, einigten wir uns nach kurzer Zeit, das Klavierkonzert von John Cage in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Ein unmittelbarer Bezug war dadurch gegeben, daß das Ensemble "die reihe" diese Komposition vor 30 Jahren erstmals in Wien aufgeführt hatte. Das Konzert artete - ebenso wie die Kölner Uraufführung ein Jahr davor - zu einem Eclat aus: alle anwesenden Kritiker waren sich darüber einig, daß man es hier mit einem Machwerk übelster Sorte zu tun habe, das es nicht verdiene, Kunst genannt zu werden.
Auch wenn einer der entsetzten Musikrezensenten den praktischen Rat gab, solche Auswüchse - in typisch Wiener Manier - "nicht einmal zu ignorieren", so zeigt sich nach 30 Jahren historischer Distanz ein völlig anderes Bild: wohl kaum ein anderer Komponist hat auf seine Zeitgenossen so befruchtend und anregend gewirkt wie John Cage, dessen Einfluß sich nicht nur auf Komponisten und Musiker beschränkt. Cage's Ideen wurden auch von Malern, Literaten und Filmemachern aufgegriffen; die Happening- und Fluxus-Bewegung geht unmittelbar auf Cage zurück. Das, was damals als Clownerie abgetan wurde, entpuppt sich heute als tiefster Ernst, und es gibt wohl kaum einen Komponisten, der dem Musiker so viel an echter Auseinandersetzung und Ernsthaftigkeit abverlangt, wie John Cage.
Indes: der Skandal findet diesmal nicht statt. Zu sehr haben die Konzepte Cage's - damals noch als fremd und bedrohlich empfunden - in die gängige Praxis Eingang gefunden (wenngleich oftmals in kaum mehr reflektierter Art und Weise). So ist heute die Chance gegeben, auf das Eigentliche zu achten, anstatt sich von skandalträchtigen Äußerlichkeiten ablenken zu lassen.
Siehe auch: Wolfgang Gratzer, Anmerkungen zum CAGE-Projekt von Karlheinz Essl, Christian Ofenbauer und Christian Schedlmayer (Wien 1989); in: ÖMZ 3/2012
Videoausschnitt von der Aufführung des Klavierkonzerts von John Cage
Wiener Konzerthaus, 25.2.1989
Video: Jack Hauser
Klavierkonzert
In seinem Klavierkonzert hat Cage dem Musikbetrieb empfindlich auf den Zahn gefühlt, indem er dessen erstarrten und nicht mehr hinterfragten Funktionen aufbricht. Die strikte Trennung zwischen Solist und Orchester ist in diesem Werk nicht mehr existent: jeder ist Solist, und die einzelnen Ensemblestimmen werden demnach als "Solo" - die Klarinettenstimme beispielsweise ist als Solo for Clarinet - betitelt. Auch die räumliche Trennung zwischen Bühne und Zuhörerraum fällt diesem Radikalismus zum Opfer: die Musiker befinden sich - wie etwa in der sog. integralen Fassungen, die das zweite Konzert beinhaltet - überall im Saal, und nicht nur - abgehoben - auf dem Podium. Die bislang gültigen hierarchischen Herrschaftsstrukturen sind außer Kraft gesetzt. Im Klavierkonzert gibt es keine Partitur, mit Hilfe derer das Zusammenspiel der Musiker kontrolliert werden könnte. Stattdessen wird an die Eigenverantwortlichkeit des Musikers appeliert, der seinen Part gemäß den von Cage definierten "Spielregeln" selbst einrichtet, und damit zum Mitschöpfer - anstatt zum Reproduzenten - wird.
"Als ich mich in Amerika daranmachte, die Orchesterstimmen meines neuen Klavierkonzerts zu schreiben, besuchte ich jeden einzelnen Musiker, um herauszufinden, was er auf seinem Instrument spielen konnte, und entdeckte mit ihm zusammen andere Möglichkeiten; dann unterwarf ich alle diese Möglichkeiten Zufallsoperationen, um schließlich zu den einzelnen Ensemble-Stimmen zu kommen, die in Bezug auf die Aufführung durchaus unbestimmt waren. Sie sollten vielleicht wissen, daß der Dirigent keine Partitur, sondern eine eigene Stimme hat, so daß er die anderen Ausführenden, auch wenn er sie beeinflußt, keineswegs kontrolliert."
Solche Absichten, die sich der Infragestellung der etablierten soziologischen Strukturen verdanken, verlangen konsequenterweise nach einer adäquaten Kompositionstechnik. Diese hat Cage - durch seine Beschäftigung mit dem chinesischen Orakelbuch I Ging - in der Anwendung von Zufallsoperationen gefunden. Die Arbeit des Komponisten besteht nun weniger darin, exakte Zusammenhänge zu definieren, die jederzeit reproduzierbar sind, vielmehr Materialien und Spielregeln bereitzustellen, aus denen in vielfältiger Weise Musik hervorgebracht werden kann. Das komponierende Subjekt - einst zum romantischen Genie hochstilisiert - tritt in einer Geste echter Demut vor dem Material als Abbild des ewigen Seins in den Hintergrund.
"Ich wies darauf hin, daß man gewohnt ist, ein Musikstück als ein Objekt zu aufzufassen, das zum Verstehen und zur späteren Bewertung sich eignet, daß es sich hier hingegen gänzlich anders verhalte. Diese Stücke sind nicht Objekte, sondern im wesentliche Prozesse, die nichts beabsichtigen wollen. Natürlich mußte ich dann die Absicht, Absichtsloses zu tun, erklären. Ich sagte, Klänge seien bloß Klänge und sonst nichts. Da Klänge nichts als Klänge sind, gibt das den Menschen, die sie hören, die Möglichkeit, Menschen zu sein, die ihr Zentrum in sich tragen, und sich nicht in einer unnatürlichen Entfernung zu diesem befinden, wie es gemeinhin auftritt, wenn man herausfinden möchte, was da ein Künstler mit Klängen ausdrücken wollte. Schließlich äußerte ich, daß die Absicht solch absichtsloser Musik erreicht wäre, wenn die Menschen zuzuhören lernten und daß sie beim Zuhören entdecken möchten, daß sie die Klänge des Alltags denen vorziehen, die sie gerade in einem Musikprogramm hörten. Was meine eigene Musik betrifft, hätte ich überhaupt nichts dagegen."
Die Rolle des Musikers erfährt dadurch eine neue Definition. Indem an seine Eigenverantwortlichkeit appeliert wird, tritt er aus dem Status eines bloß reproduzierenden Künstlers. Dies hat freilich nichts mit Beliebigkeit zu tun und schon gar nichts mit Improvisation. Nicht das spontane Reagieren und das Abspulen verinnerlichter Clichés und Spielgesten ist gefragt, sondern das (Er-)finden des Neuen und Ungeahnten.
"Mein Verständnis von Disziplin geht dahin, daß sie uns von der Tyrannei der in uns heraufkommenden Neigungen und Abneigungen frei macht."
Dazu kann es von Nutzen sein, sich aus dem Cage'schen Material Spielfassungen herzustellen, wobei die unterschiedlichsten Operativprogramme (im Sinne von Umberto Eco) angewendet werden können. Diese sind freilich auch nicht als Ware frei verfügbar, sondern müssen zunächst einmal erfunden - also konstruiert - werden. So wurden für die Integrale Fassung des Klavierkonzertes die einzelnen Ensemblestimmen durch Anwendung geeigneter Zufallsoperationen (die von einem Computerprogramm realisiert wurden) in klanglich "aktive" und "stille" Abschnitte unterteilt und zugleich die statistischen Dichten der einzelnen Fassungen durch die Wahl des Zeitrasters bestimmt. Der Cage'sche Notentext wird sozusagen noch einmal einer Verarbeitungsprozedur unterworfen, ohne diesen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Damit soll dem Musiker ein Werkzeug in die Hand gegeben werden, mit Hilfe dessen er die zur Verfügung stehende Zeit von eineinhalb Stunden aktiv gestalten kann, ohne in das Reproduzieren seines eigenen Repertoirs an Floskeln und Verhaltensmustern zu verfallen.
Ein solches Verfahren ist freilich weder zwingend noch von Cage irgendwo vorgeschrieben worden. Und doch erscheint mir die Legitimation dieser Vorgangsweise allein in der Auseinandersetzung mit dem Werk Cage's begründet, wie auch die gemeinsam gefaßte Entscheidung, eine eineinhalbstündige Integrale Fassung des Klavierkonzerts stattfinden zu lassen. Ohne die ursprünglichen Absichten Cage anzutasten wird ein komplexer Mechanismus inszeniert, in dem sich verschiedene Abläufe und Prozesse - teils aus dem Material des Klavierkonzerts, teils aus weiteren Kompositionen Cage's und anderen stammend - mannigfach durchdringen.
Kritik über das Cage-Konzert der Reihe" (Neues Österreich, 21.11.1959)
Programmkonzept
Diese programmatischen Konzepte entstanden während einer fast eineinhalb Jahre währenden Arbeit am CAGE-Projekt, die vom Komponistenkollektiv Essl-Ofenbauer-Schedlmayer im November 1987 begonnen wurde. Ohne zunächst die Fragen der Programmgestaltung direkt zu erörtern begannen wir, uns mit dem philosophischen Denken eines John Cage auseinanderzusetzen. Im Zusammenhang damit kam eine Fülle von Material zusammen: etwa die - in den 60er Jahren virulent gewordenen Fragen zur "offenen Form" (Umberto Eco) und ihre heutige Neubewertung in den Naturwissenschaften, wo experimentell nachgewiesen werden konnte, daß Systeme, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, aus sich heraus Eigenkräfte entwickeln können, die zur Bildung von - nicht hierarchisch gesteuerten! - Strukturen führen und damit zur Stabilisierung beitragen (Ilya Prigogine).
Aufgrund unserer Auseinandersetzung mit Cage's Denken und Werk erschien es uns überflüssig, eine - mittlerweile selbst zur Musikgeschichte gewordene Haltung - im Sinne einer "historischen Aufführungspraxis" zu reproduzieren. Jeder der drei Komponisten stieß mit seinem Erfahrungshorizont und seinen speziellen Fragen an die Cage'sche Musik dazu und suchte nach Lösungen, die seiner eigenen Persönlichkeit am ehesten entsprechen. So machten wir die Erfahrung, daß es unendlich viele Zugänge zur Musik von John Cage und den ihr zugrunde liegenden Konzepten gibt, daß es nicht eine einzige Lösung, sondern viele mögliche gibt. Anstatt eine bestimmte Façette herauszustellen zeigte uns der fortwährende Umgang mit dem Material selbst den Weg: ebenso, wie verschiedenen Kompositionen von Cage gleichzeitig ablaufen können (allerdings nur solche, die aufgrund der angewendeten Kompositionsmethode kompatibel sind), und in ihrer Durchdringung neuen Bezüge ergeben, ist es auch möglich, daß gleichzeitig verschiedene Methoden zur Realisation eines Werkes im Gang sind. Hatte jemand ein bestimmtes Konzept ausgearbeitet, so zeigte sich in der konkreten Arbeit mit dem Notenmaterial und den Musikern, daß solche bestimmten Formulierungen sich im Verlaufe des Arbeitsprozesses veränderten, und oft genug machte man die erstaunliche, beglückende Entdeckung, daß das, was ursprünglich als Gegensatz zur Sichtweise eines anderen empfunden worden war, den Widerspruch in sich aufgenommen hatte. Augenfälliger war Dialektik für mich selten erlebbar.
Ab dem Frühjahr 1988 wurden nach und nach Musikerpersönlichkeiten für das Projekt gewonnen und in die Diskussionen einbezogen. Die ersten Proben fanden im Herbst statt. Da wurden wir von verschiedenen Seiten gefragt, ob es überhaupt notwendig und erwünscht sei, diese Musik zu proben; es wäre doch ausreichend und auch im Sinne von Cage, wenn die Musiker sich im stillen Kämmerlein vorbereiteten und erst im Konzert miteinander spielten. Dem sei entgegengehalten, daß die Ensemblearbeit nicht den Zweck zu erfüllen hatte, eine reproduzierbare Konzertsituation einzutrainieren, sondern daß der Umgang mit dem offenen Material im Kollektiv erlernt werden müsse. Von den Auswirkungen des Materials blieb auch wahrlich nichts verschont und es darf gesagt werden, daß kein einziges vorgebrachtes Konzept, so ausgeklügelt oder "offen" es auch gewesen sein mag, unverändert aus diesem Arbeitsprozeß wieder hervorgegangen ist. In diesem Sinne konnte der Anspruch unseres Projektes, echte Kollektivarbeit geleistet zu haben, sich bestätigen. Alles, was in den Arbeitsprozeß eingebracht wurde, zeitigte Auswirkungen, beeinfluPte anders Konzepte, führte zum Hinterfragen und Neuformulierung und so zu einer echten Auseinandersetzung. Insofern ist das CAGE-Projekt - auch wenn es sich heute als solches präsentiert - noch lange nicht abgeschlossen. Die Arbeit geht weiter, und in dem, was heute hörbar wird, spiegelt sich der momentane Stand unserer Auseinandersetzung mit Cage und seinem Klavierkonzert wieder.
Karlheinz Essl: Skizze zum Einführungsvortrag zum CAGE-Projekt 1989
Mozart-Saal - 16.30 Uhr
Buffet Mozart-Saal / Schubert-Saal - ca. 18.00
Großer Saal - 19.30 Uhr
Integrale Fassung: Synchron-Aufführung von
Mozart-Saal - ca. 21.00 Uhr
Sich in anarchischer Freiheit sinnvoll und diszipliniert zu bewegen - das ist die Herausforderung, die die musikalische Konzeption von John Cage für die drei jungen Komponisten Christian Schedlmayer, Karlheinz Essl und Christian Ofenbauer immer noch enthält. Eineinhalb Jahre lang haben sie sich gemeinsam mit 19 Musikern mit Cage Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1958 auseinander gesetzt. Das Ergebnis ist jetzt ein insgesamt 5-stündiges Konzert, das in mehreren Sälen des Wiener Konzerthauses stattfindet und ein gemeinsames Abendessen von Musikern und Publikum sowie eine Diskussion miteinschließen soll. Aufgeführt wird dabei natürlich nicht nur das erwähnte Klavierkonzert, sondern mehrere ältere und neuere Stücke und Texte von Cage. Erst hintereinander, und dann schließlich simultan. Das heißt, bis zu 5 verschiedene Stücke gleichzeitig.
Karlheinz Essl: „Ich glaub’ der Cage hat selber einmal davon gesprochen, dass er und die Musiker seines Kreises wie Morton Feldman, Christian Wolff und Earl Browne den Leim aus der Musik herausgenommen haben.”
Christian Ofenbauer: ”Cage hat ja wirklich behauptet, dass alles Musik sei. Er hat ja nicht ganz unrecht. Und hat damit die Musik losgelassen. Der Tiger ist los, die Musik springt jetzt in die Konzertsäle und verbreitet eine ziemliche Form von Schrecken. Ich kann ja, nachdem in unserem Leben so vieles gleichzeitig passiert, etwas, das ich auch nicht sehen kann oder mitkriege, dies einmal in einem Raum, in einer Verabredung - in diesem Fall bei einem Konzert - gleichzeitig machen. Weil die Stück alle aus der selben philosophischen Haltung heraus entstanden sind.”
Da gleichzeitig mit der Musik auch die beiden Cage-Vorträge „Vorlesung über Etwas” und „Vorlesung über Nichts” - beide aus dem Jahr 1959 - rezitiert werden, bekommt der willige Zuhörer mit der Musik auch gleich die Gedanken des Komponisten mitgeliefert. Nicht als Erklärung freilich, sondern nur als Hinweis. Denn das Wesentlichste in Cagesches von westlichen und östlichen Philosophien geprägten Weltanschauung ist die Veränderung - das alles im Fluss ist.
John Cage: „Meine Arbeit ist charakterisiert durch Veränderungen. In den 50er Jahren habe ich zum Beispiel das Stück „Music of Changes” geschrieben. Sehr wichtig für mich ist das Buch der Wandlungen, das älteste Buch der Welt aus China. Das I Ging bestimmt im Zusammenhang mit den Zufallsoperationen meine Arbeit seit den 50er Jahren bis heute, wo ich mit meiner quasi anarchischen Musik einfach weitermache.”
Home | Works | Sounds | Bibliography | Concerts |
Updated: 29 Jan 2023