Karlheinz Essl

Portrait KHE

Déviation

for flute, bass clarinet, violin, cello, piano and percussion
1993

Für Marian

Commissioned by the Konzerthaus Vienna
for the soloists of Ensemble InterContemporain, Paris


Überzeugend werden Kommunikationsprozesse in Déviation gestaltet, wo sich zwei Trios gleichsam doppelchörig gegenüberstehen und von einem anfänglich oszillierenden Klangfeld zu quasi dialogischen Interaktionen finden, bevor die einzelnen Stimmen voneinander und von einem gemeinsamen imaginären Zentrum "abzuweichen" beginnen, um schließlich geräuschhaft und diffus zu verebben.

Martin Gut, ÖMZ Nr 6-7, 2005


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Karlheinz Essl: Déviation (1993)

Performed by Klangforum Wien, dir. Johannes Kalitzke
Salzburg Festival, Portrait Concert Karlheinz Essl (7 Aug 1997)



english

Program notes

In Déviation, the starting point is a variety of instrument-specific heterogenous musical gestures which indicate pluralism and multi-linguality. These different musical materials create a conflicting situation between the indiviuum (the single instrument), the collective (the 2 trios) and the whole.

The potential for this is already founded in the instrumental set-up. The piece consists of two trios with different, but related instruments which are separated spatially on stage.

flute - bass clarinet
cello - violin
percussion - piano

The formal and structural processes of this piece have been drawn from this arrangement. Each instrument has a corresponding "partner" in the other trio, an instrument from the same "family", but with different timbral characteristics and register. Similarity and diversity, convergence and divergence: these are the main topics of this piece.

The sound material is constructed in a similar way: extreme polarities as reached at the end of the first section (low, loud and short sounds as opposed to high, soft and long sounds) are mediated by various variants in between them.

From a completely amorphous beginning where all instruments are melted together, two different processes evolve: the high instruments constantly ascend and become softer whereas the low instruments descend to their lowest registers and eventually meet in unison.

In the following section the instruments develop from this polarity to a common gesture - the fast repetition of a single note.

At the end, the tendency of individualization becomes dominant. The regularity of the common pulsation is constantly dropped, new elements enter the game, and finally each instrument arrives at a typical instrument-specific gesture:

flute: quick melody fragments
bass clarinet: repetitions
violin: ricochet figures
cello: sustained notes
piano: sforzati on damped low strings with resonances
percussion: tremolo chords

Eventually the piece ends in this state of deviation and diversity.

© 1998 by Karlheinz Essl



deutsch

Werkeinführung

Die genüßliche Genauigkeit, mit der Umberto Eco in seinem Roman >Der Name der Rose ein Labyrinth entwirft, verweist auf eine neuerwachte Leidenschaft der Kunst: im oberflächlich Chaotischen Regeln zu entdecken, die das Durcheinander strukturieren. "Unvorhersehbarkeit und Stringenz" sind denn auch zwei Schlüsselbegriffe des Wieners Karlheinz Essl, Jahrgang 1960. Daß im Alltag alles, was einst simpel schien, kompliziert wurde, hat die Wissenschaft umgekehrt dazu animiert, die Ordnung des Chaos' zu erforschen. Dabei zeigte sich, wie etwa im Falle der fraktalen Computerabbildungen der Mandelbrot-Menge, daß dem Undurchschaubaren eine ästhetische Schönheit sondergleichen innewohnt. Und so entwirft auch Essl in seinen Kompositionen verwirrende Klanglandschaften, wirbelt musikalische Charaktere in labyrinthischer Weise durcheinander. Der Weg durch das Labyrinth führt stringent wieder aus ihm heraus, seine Windungen aber sind unvorhersehbar.


Labyrinth von Chartres

Labyrinth auf dem Fußboden der Kathedrale von Chartres


Essl studierte an der Wiener Musikhochschule Kontrabaß bei Heinrich Schneikart und Komposition bei Friedrich Cerha. Mit dem Kontrabaß stieß er zu Jazz-Ensembles und Experimentalgruppen, wo er seine Vorliebe für die "Unvorhersehbarkeit" pflegen konnte. Parallel dazu setzte er sich mit mittelalterlicher Musik auseinander und schrieb eine Dissertation über "Das Synthese-Denken bei Anton Webern" (1989). Dabei interessierte Essl an der seriellen Technik nicht die (ohnedies meist mißverstandene) "Strenge" sondern ihre Auffassung vom Klang als vielschichtiger Summe isolierbarer Teile.

Dem Zerlegen (und Zusammenfügen) von Musik ist Essl bis heute treu geblieben. In seinen letzten Werken hat er aus dem je verfügbaren Instrumentarium spezifische Klangtypen gewonnen, vormusikalische Knochen gleichsam, die im Verlauf einer Komposition wie dem Orchesterstück In Girum. Imus. Nocte in ein Skelett gefügt werden, aus dem schließlich die Musik entsteht.


Déviation nahm von der instrumentalen Besetzung ihren Ausgang. Essl träumte - nach eigenen Angaben - im Mai 1993 von zwei Trios, deren ähnliche Besetzung sie einander zuordnet und deren Unterschiedlichkeit Abweichungen herausfordert. Jedes Trio besteht aus einem Holzbläser (Flöte - Baßklarinette), einem Streicher (Violoncello - Violine) und einem "Schlag"instrument (Klavier - Perkussion). Geplant war Déviation als Seitenstück eines Triptychons, das ein Duo (Rapprochement für Viola und Violoncello, 1992), ein Quartett (In's Offene, 1991) und wieder ein Duo enthalten sollte. Nun: Letzteres wurde, wie man sieht, ein Sextett, was die Symmetrie des Triptychons über den Haufen wirft - auch dies eine Abweichung, ein Umweg, französisch: eine "Déviation".

Das knapp viertelstündige Stück besteht aus drei etwa gleich langen Abschnitten. Im ersten Abschnitt stehen sich die zwei angesprochenen Trios gegenüber. Vereinzelung wird sichtbar, doch bilden die Instrumente wechselnde Koalitionen sowohl innerhalb der Trios als auch zwischen den einander korrespondierenden Instrumenten. Ausgangspunkt ist ein nebulöses, gleichmäßig schwirrendes Feld, in dem sich die Klangfarben subtil mischen. Nach und nach lösen sich aus diesem musikalischen "Urzustand" schwach konturierte Gestalten; das Register spreizt sich, die Instrumente treten auseinander und beginnen ihre Zwiegespräche: Der Vorhang hat sich gehoben.

Noch vor dem zweiten Abschnitt (die Übergänge sind fließend) setzt sich eine hörbares Klopfen durch. Auf den rhythmisch gleichmäßigen Repetitionston einigen sich bald alle Instrumente, denn der zweite Abschnitt zeigt das Sextett als Kollektiv, in dem zwar die Eigencharakteristik jeder Stimme gewahrt bleibt, in der es aber Stellen von plötzlich und deutlich vernehmbarer Annäherung gibt.

Im dritten Abschnitt zerbröselt die eben erfolgte Einigung. Eine Zersplitterung der Stimmen, ja ihre Isolation ist die Folge. Dies ist jener Teil des Essl'schen Labyrinthes, den nur kühle Köpfe überblicken können. Eingedenk der Virtuosität der uraufführenden Musiker hat Essl eine Kammermusik geschrieben, in der jede Stimme konsequent solistisch geführt ist, keine Wiederholung die Aufnahme erleichtert, alles im Fluß ist und sich der Sprachduktus in kürzester Zeit ändert. Nur zögernd kehren bereits bekannte Klangtypen wieder, freilich als Bruchstücke, nicht als Reprise. Und auch das Ende ist keine Synthese, sondern besteht in einem Umkippen der Töne ins Geräusch - ein offener Schluß. Den Ariadne-Faden zu dieser Musik muß sich jeder Hörer selbst knüpfen, soll heißen: Essl rechnet mit einem Publikum, das sich vom Vokabular neuester Musik nicht in die Irre führen läßt und ein Maximum an Aufmerksamkeit entgegenzubringen bereit ist.

Die Motivation zur Überstürzung der musikalischen Ereignisse im dritten Abschnitt ist übrigens biographischer Natur. In der Schnelligkeit, mit der sich hier Musik ändert, spiegeln sich die jüngsten Lebenserfahrungen des Komponisten wider, die von der Geburt zweier Söhne geprägt sind. Daher sei auch die Widmung des Stückes nicht verschwiegen. Sie gilt dem zweiten Sohn Essl's, Marian, geboren im Juni 1993: Auch er ist einer, der Abweichungen und Umwege erzwang.

© by Christoph Becher (1993)

Programmheft-Text anläßlich der Uraufführung am 22.3.1994 im Wiener Konzerthaus durch die Solisten des Ensemble InterContemporain (Paris).



français

Introduction

La composition pour ensemble Déviation ("Détour") vient d'apres les dires de Essl d'un rêve de mai 2003: deux trios sont classés ensemble à cause de la ressemblance de leur formation. Par leurs différences, ils provoquent une dérive. Chaque trio comprend un instrument à vent (flûte - clarinette basse), un à corde (violoncelle - violon) et une percussion (piano - percussion).

L'oeuvre, qui s'oriente comme beaucoup de compositions d'Essl en fonction des systèmes de communicaton et des types des comportement, se présente en trois parties. En première partie se tiennent les deux trios "rêvés" en face l'un de l'autre. La confrontation devient un état primitif d'un champ sonore sifflant, nébuleux, dans lequels les couleurs acoustiques commencent à se mélanger.

Le second partie répresente une phase de consolidation, qui fait fondre les deux trios en un sextuor. Bien que l'individualité de chaque voix reste intacte, quelles lignes séparées s'approchent, et entrent en relation les unes avec les autres.

Dans la dernière partie enfin, l'image fragile s'efface. Les voix explosent, se dissolvent jusqu'à l'isolation complète. Les motifs et les constellations sonores apparaissent en une sorte de reprise de réminiscence d'une symbiose perdue et irréparable, jusqu'à que les sons se changent en bruits - ombres d'eux-même et en même temps état primitif.

© by Christian Baier (2005)

Taken from the CD booklet of soundscapes 4 advanced by Ensemble XX. Jahrhundert (Gramola 98783, 2005)


Score

The score of Déviation can be downloaded for free. Please note that the music is protected by copyright.

Déviation, page 1
Déviation, page 1-2
© 1993-2015 by Karlheinz Essl



CDs

transmission
Ensemble Transmission
Production Ensemble Transmission (Montréal 2013)
soundscapes 4 advanced
ensemble xx. jahrhundert, Dir. Peter Burwik
Gramola 2005



Articles



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Updated: 13 Aug 2021

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