Portrait

Karlheinz Essl

Was ich lese

Humberto Maturana, Was ist erkennen?
(Piper: München 1994)


Die alte Frage, was die Wirklichkeit ist und wie sie zu erkennen sei, hat der chilenische Biologe Humberto Maturana auf radikale Weise neu gestellt. In seinem kürzlich erschienenen Buch "Was ist erkennen?" zeigt er auf geistreiche und pointierte Weise, daß Erkenntnis nicht - wie stillschweigend vorausgesetzt - die Abbildung einer objektiven Wirklichkeit ist. Maturana stellt die These auf, daß wir die Welt, in der wir leben, durch unsere Wahrnehmung konstruieren. Da es aber bei jedem Wahrnehmungsvorgang zur einer Wechselwirkung zwischen Betrachter und Betrachtetem kommt, kann es keine vom Betrachter unabhängige, "objektive" Welt geben: das Bild entsteht im Auge des Betrachters. Daraus folgt: für unsere Weltsicht (eine mögliche Konstruktion unter vielen) sind wir persönlich verantwortlich.

Diese durch unsere individuelle Struktur geprägte Auffassung von der Wirklichkeit kann deshalb nie den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Daraus resultiert eine tolerante Haltung gegenüber anderen Wirklichkeitskonstruktionen und eine Abkehr von jeglicher totalitärer Doktrin. Dies scheint mir, in Zeiten wiedererwachender Autoritätsbedürfnisse, wichtiger denn je.

© 1994 by Karlheinz Essl / Die Presse


in: DIE PRESSE (Wien, 12./13.11.1994)


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Updated: 7 Jan 2018

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